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Im Bereich der Handlungsformenlehre hat die Zentrierung auf den Verwaltungsakt mit den Jahren abgenommen, zumal das durch eine Generalklausel weit gestellte Verwaltungsprozessrecht ihm nicht erst seit Einführung der bundesgesetzlichen Verwaltungsgerichtsordnung (1960) seine rechtsschutzeröffnende Bedeutung genommen hatte.[69] Wissenschaftlichen Auftrieb erhielt Ende der fünfziger Jahre der verwaltungsrechtliche Vertrag durch das fast zeitgleiche Erscheinen einer Serie seine rechtliche Zulässigkeit attestierender Abhandlungen.[70] Geblieben ist jedoch eine weitgehende Fokussierung auf einen nach außen gerichteten abschließenden Entscheidungsakt, wenn auch die Betonung des „Rechtsverhältnisses“ als „viel umfassenderes Institut“[71], gerade in den leistungsverwaltungsrechtlichen Dauerbeziehungen, wie des Verfahrensgedankens,[72] noch über die Vorgaben des 1976 kodifizierten Verwaltungsverfahrensgesetzes hinaus, hier relativierend gewirkt hat. Einen teils euphorischen Aufschwung erlebten seit den sechziger Jahren das Instrument der Planung[73] und in der Folge das Planungsrecht mit einer ausziselierten Sonderdogmatik. Damit ging eine partielle Umstellung von der klassischen Konditional- hin zur vergleichsweise offenen und abwägungsabhängigen Finalprogrammierung einher, wie die in den siebziger Jahren zeitweilig wieder ambitionierte Verwaltungswissenschaft vermerkte.[74]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland › II. Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht
a) Konsolidierung der rechtsakt- und rechtsschutzbezogenen Dogmatik
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Mit den Mitteln einer im Wesentlichen normativ orientierten Rechtsdogmatik erfolgte der Ausbau der „alten“ Bundesrepublik zum teilweise schon als hypertroph kritisierten Rechtsschutzstaat.[75] Die Perspektive von Verwaltungsgerichten und Verwaltungsrechtswissenschaft richtete sich vornehmlich auf isolierbare Rechtsakte,[76] die nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte einer justiziellen Kontrolle zugeführt und hierbei der Maßstäblichkeit der Verwaltungsrechtsordnung unterworfen wurden. Eine solchermaßen rechtsschutzzentrierte Betrachtung legte den Akzent auf das in den Rechtskreis des Bürgers hineinwirkende staatliche Entscheidungsergebnis, weniger hingegen auf das vorgängige Verfahren und die interne Organisation des Entscheidungsträgers. Im Mittelpunkt standen die materiellen Gesetzesprogramme in Form von Eingriffsermächtigungen und Anspruchsnormen,[77] die Rechts- und Handlungsformen der Verwaltung, punktuelle Regelungen des Verwaltungsverfahrens sowie das Verwaltungsprozessrecht. Das einschlägige positive Recht wurde im Wege juristischer Interpretation und Begriffsbildung strukturiert und erschlossen, durch Ausbildung dogmatischer Figuren, Institute und Grundsätze[78] aufbereitet, gelehrt und angewandt. Schwierigkeiten bereitete der formgebundenen Denk- und Arbeitsweise die Verarbeitung von Innovationen, etwa des Phänomens der Planung, das sich nicht ohne weiteres in die überkommenen Kategorien fügte und zur Ausbildung eines eigenen Planungsrechts führte.[79] Anpassungsleistungen erforderte auch das Zusammentreffen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Gestaltungselemente, zuvörderst im Subventionsrecht, die Expansion der gesetzlich unterbestimmten Leistungsverwaltung,[80] das weite Spektrum administrativer Rechtsetzung,[81] die polygonale Struktur von Verwaltungsrechtsverhältnissen, die Bewältigung technischer und ökologischer Risiken mit hoher Prognoseunsicherheit,[82] das verstärkte Aufkommen informalen Verwaltungshandelns in Form von Warnungen, Empfehlungen und Absprachen[83] sowie die zahlreichen Erscheinungsformen von Privatisierung und schließlich Europäisierung im Bereich der Verwaltung. Summa summarum ließen sich die neu auftretenden Problemstellungen mit einer offen gehandhabten juristischen Methode kleinarbeiten, zumindest aber lokalisieren und illustrieren, indem der normative Bezugsrahmen durchaus kreativ, sei es in Form der Zweistufentheorie,[84] der Rechtsverhältnislehre,[85] des Verwaltungsakts mit Drittwirkung,[86] der Scheidung von Innen- und Außenrecht, Verfahrensfehlerfolgenlehre[87] oder Privatisierungstypologien[88] den Veränderungen in der Verwaltungswirklichkeit anverwandelt wurde. Größere Krisen wollen Vertreter der „alten“ Verwaltungsrechtswissenschaft rückblickend weder erkennen, noch erscheint ihnen die erreichte Gestalt ihrer Wissenschaft „grundsätzlich oder umfassend defizitär“.[89] Das seit 1980 wohl erfolgreichste Lehrbuch des Fachs bildet von einem entsprechenden Verständnis des Verwaltungsrechts als dem „Inbegriff der [...] Rechtssätze, die in spezifischer Weise für die Verwaltung [...] gelten“,[90] seinen Gegenstand rechtsdogmatisch ab, nicht ohne eine „gewisse Zurückhaltung gegenüber neuen Entwicklungen“ attestiert zu bekommen.[91] An der Vorgabe „Rechtswissenschaft ist zumindest systematisch oder sie ist nicht“ (Hans Julius Wolff) wird ausdrücklich festgehalten.[92]
b) Kritik der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“
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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ sieht sich als Ergebnis einer Krise, die gegen Ende der achtziger Jahre eine „tief greifende Umbruchphase“ im deutschen Verwaltungsrecht eingeleitet habe.[93] Vollzugsdefizite, belegt durch empirische Implementationsforschung namentlich im Umweltrecht, sowie verbreitete Kooperations- einschließlich paralegaler Duldungspraktiken, Informationsdefizite und -dilemmata, ungeheure Aufgaben- und Komplexitätszuwächse, schließlich der untergründige „Wandel des bürgerlichen Rechtsstaats zum intervenierenden Wohlfahrts- und Präventionsstaat“ erforderten einen „grundsätzlichen Umbau des Verwaltungsrechts und seiner Dogmatik“.[94] Der doppelspurige Ansatz umschließt ein über das herkömmliche normverwertende Wissenschaftsverständnis hinausgehendes, auf Dauer gestelltes rechts- und verwaltungspolitisches Reformanliegen, um dem „komplexen Zusammenhang zwischen Rechtsetzung, konkreter Entscheidung und Vollzug“ gerecht werden zu können.[95] Damit verbunden ist die Ergänzung der rechtsakt- um eine wirkungsbezogene Sicht auf das nunmehr primär als Verhaltens- und nur sekundär als Kontrollprogramm verstandene Verwaltungsrecht.[96] Die explizite Einbeziehung der Frage nach der „Zweckmäßigkeit einer Lösung“ samt der Erklärungskraft entsprechender wissenschaftlicher Argumente bedingt eine Schwerpunktverlagerung von der rechtsaktfixierten Dogmatik auf eine „problemorientierte Handlungsperspektive“.[97]
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Proklamiert im Einleitungsaufsatz eines dreibändig angelegten Handbuchs des Verwaltungsrechts, das die Erkenntnisse von zehn Tagungsbänden zur „Reform des Verwaltungsrechts“[98] systematisieren und fortschreiben will,[99] bezeichnet „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ kein fertiges und homogenes Programm, sondern zeigt eine Richtungsänderung mit im Einzelnen noch unklarem Bewegungsverlauf an. Konzeptionell offen erscheint noch die Frage der Anlehnung entweder an den verwaltungswissenschaftlichen Steuerungsbegriff,[100] der eine Unterscheidbarkeit von Steuerungssubjekt und -objekt voraussetzt, oder den sozialwissenschaftlichen Leitbegriff „Governance“.[101] Letzterer eröffnet eine institutionalistische Perspektive auf Regelungsstrukturen, toleriert Grenzverwischungen aller Arten, legt den Anschluss an Netzwerkmodelle nahe und kann hybride Phänomene gegenwärtiger Verwaltung beschreiben, sperrt sich allerdings gegen klare normative Kompetenz- und Verantwortungszuschreibungen. Auch das mit dem Begriff des „Gewährleistungsstaates“ verbundene Konzept der „Regulierungsverwaltung“ sowie der „hoheitlich regulierten gesellschaftlichen Selbstregulierung“[102] bietet lediglich einen begrenzten, zudem „ungefilterten“[103] Zugriff auf die Verwaltungswirklichkeit, da sich dem modalen Ansatz keine Regulierungstatbestände und -maßstäbe entnehmen lassen. Greifbar ist das Anliegen