III. MetaphernMetapher ausbeuten
Der Weg dorthin ist nicht geradlinig. Die Bewegung der DekonstruktionDekonstruktion verweigert, was im platonischen Zusammenhang definitorisch heißen würde, also die Einordnung eines Wortes in ein größeres Ganzes, verbunden mit einer spezifischen DifferenzDifferenz, die dem Einzuordnenden seinen logischen Platz im Ganzen zuweist. Es gibt zwar ein Zentrum, eine Kapitale, aber die Dekonstruktion vermeidet den Hauptplatz und betont die Differenz. Solche DifferenzenDifferenz findet man, indem man einen Begriff buchstäblich untersucht, und das heißt: beim Namen nimmt. Für Derrida liegt darin eine »Aufkündigung« (suspension), eine Absage an Zustände, die auffallen. Die suspension befragt das Wort gegen seinen manifesten Sinn, indem sie am Buchstaben haftet und der bleibenden Schriftform Vorrang vor dem flüchtigen, mündlichen Ausdruck gibt. Das darf man in platonisch-sokratischer Tradition nicht machen. Wer ein Wort buchstäblich nimmt, behandelt es wie einen Namen, und dann entsteht das Gegenteil einer Definition. In der begriffssyllogistischen Tradition spricht man von »MetaphernMetapher«, und Juristen lernen, dass sie nicht metaphorisch, sondern begrifflich trenngenau reden sollen. Die dritte Operation besteht deshalb in einer zweifachen sprachlichen Bewegung. Man nimmt einen Begriff beim Namen und stellt Verbindungen her, die metaphorisch wirken und inhaltlich nutzbar gemacht werden können. Zu achten ist auf Assoziationen, mögen sie auch im Text als vollkommen nebensächlich erscheinen, mag sich der Autor im Zweifel vom Namen distanzieren und sagen, so habe er es nicht gemeint und man solle einfach ein anderes Wort benutzen. Mit der Buchstäblichkeit des Namens stößt man zur MetapherMetapher vor. Das klingt zunächst einmal rätselhaft, und bleibt es auch eine Zeitlang. Man fragt sich, wohin es führen soll und warum jemand, der die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika liest, als wesentliches Merkmal die Eingangsformel festhält (»We, therefore, the Representatives of the United States of America […] «)[108]. Man fragt sich, inwiefern die wechselnde Regieanweisung Enter the Ghost, dann exit the Ghost und schließlich re-enter the Ghost ein Drama wie »Hamlet« charakterisiert[109], und ganz ähnlich fragwürdig erscheint es, wenn ein Redner über das Recht des Stärkeren mit der Feststellung beginnt, Drehungen, Wendungen und Windungen, dazu der Turm und der Kreislauf von Runden und |34|Umrundungen bestimmten das Thema[110]. Es sind die abwandelnde Wiederholung wie der Umbau von Worten, mit denen ein Titel entwickelt und Begriffe wie Namen[111] benutzt werden, sodass ein Kap zur Kapitale wird und von dort ins Kapital hinüber gleitet.
IV. Fremdes aufpfropfen (la Greffe)
Die Bewegung aus der MetaphorikMetapher im Namensgebrauch ergreift am Ende alle, vor allem denjenigen, der gerade spricht. Er selbst könnte derjenige sein, der gerade das Recht des Stärkeren ausspielt, für das Derrida im Schurken-Essay auf die Fabel vom Wolf und dem Lamm zurückgreift, wie sie Jean de la Fontaine erzählt. Danach scheint es nur so, als wolle der Wolf mit dem Lamm über unrechtmäßige Handlungen argumentieren. Aufgepfropft wird die Gewalt: Das Lamm soll gefressen werden, weshalb die Fabel mit dem Vers beginnt: »Das Recht des Stärkeren ist das beste immerdar«[112]. Die Fabel wird der rechtstheoretischen Frage nach der Bedeutung von Macht und Gewalt »aufgepfropft«, wie Derrida es selbst nennt[113]. PfropfungPfropfung ist die vierte Operation im Dekonstruieren (wobei es keine obligatorische Reihenfolge gibt und Pfropfungen auch schon in den Gegensätzen liegen): PfropfePfropfung dem Text das Andere auf. Derrida empfiehlt la greffe für den Bau von Interpretationen. Greffer (PfropfenPfropfung) stammt als Wort aus dem Obst- und Gartenbau und ist eine aktive Operation, die Inhalte verändert wie aufgepropfte Edelreise eine Pflanze verändern. Derrida liest sein Thema wieder und wieder, in Windungen und Wendungen, vor allem die These, die Demokratie sei »im Kommen«, sie müsse erst noch entstehen, und das mehrfache Lesen ist eine wesentliche Bedingung der Pfropfung. Die These taucht gleich am Anfang auf, wenngleich in einer Verkürzung, die kaum verständlich zu sein scheint, wenn es heißt[114]: »die kommende Demokratie: dafür braucht es die Zeit, dafür muss es die Zeit geben, die es gar nicht gibt«. Den Gedanken der democratie à venir, der Demokratie-im-Kommen, bezeichnet Derrida dann als Syntagma ohne Paradigma und dekonstruiert damit gleichzeitig die Sausurresche Formation des Zeichens. Im Syntagma treten immer zwei Zeichen gemeinsam auf, etwa »Kommen« und »Demokratie«, und man versteht die damit erschlossenen Zusammenhänge, wenn man die Beispiele sieht und hört, die syntagmatisch erfasst werden[115]. Aber Derrida findet kein Beispiel vor. Die DekonstruktionDekonstruktion erschließt Neuland.
|35|V. Das Andere (er-)finden
Neuland gewinnen heißt aber nicht nicht etwas inhaltlich erobern oder besetzen, sondern Neuland gewinnt man durch eine inzwischen oft »postmodern« genannte Operation, die man in der fünften und letzten Operation so zusammenfassen kann, dass in einem Begriff oder Konzept nach dem Ausschau gehalten wird, was anders ist und die Abhängigkeit eines Terms von der Gegenwart dessen offenbart, das als Drittes weder dem Gegensatz noch dem Ausgangsbegriff angehört. Wenn ein Text falschen Glauben anprangert, untersucht man ihn daraufhin, auf welchem Glauben er selbst aufbaut und was daran zweifelhaft ist. Wenn er die richtige Lehre verteidigt, untersucht man den Text darauf, auf welchen Voraussetzungen die propagierte Richtigkeit beruht. Man gelangt auf diese Weise an die Punkte in einem Text, an denen sich ermessen lässt, welche Anstrengungen der Versuch kostet, logozentrische Konstruktionen zu erstellen bzw. Regeln zu formulieren und Ausnahmebedingungen abzuwehren. In der gegenwärtigen philosophischen Debatte tritt an dieser Stelle nicht nur eine beliebige Andersheit zu Tage, sondern schlechthin das Andere[116], das oft auch im Hinblick auf die fundamentalphänomenologische Sicht von LévinasLévinas, Emmanuel der oder die Andere heißt und mit dem unentrinnbaren Anruf des Antlitzes unterlegt wird[117]. In der Erkundung des vorher nicht für möglich gehaltenen Anderen besteht eigentlich das Ziel und der Zweck eines dekonstruktiven Modells. In einem Wort ausgedrückt, ist die DekonstruktionDekonstruktion dann »the experience of the impossible«[118], wobei – abgesehen von der selbst schon dekonstruktiven Formulierung – die Unmittelbarkeit einer Erfahrung neben die logische Unmöglichkeit des Anderen gesetzt wird.
Ich fasse die strategischen Züge des dekonstruktiven Modells zusammen: zuerst die Suche nach Gegensätzen, dann die möglichst dichte Formulierung eines solchen Gegensatzes im ParadoxonParadoxie (Freunde, es gibt keinen Freund), womit der Form nach eigentlich schon alles geleistet ist. Alles Weitere dient dieser Doppelbewegung. Man geht mit den weiteren Operationen noch einmal in die Methode der Suche nach Gegensätzen und ihrer Ausbeutung hinein. Das sind insoweit alles rhetorische Manöver: etwas aus dem Namen entwickeln und dabei die Gleichmäßigkeit der äußeren Form nutzen, Anderes aufpfropfen und schließlich die Abhängigkeit des Einen vom ausgeschlossenen Anderen zeigen. Aber unabhängig davon: Alle diese Bewegungen kommen in der juristischen Auslegungslehre nicht vor, so dass Auslegungstheoretiker von einer »Apotheose des Dekonstruktivismus«[119] sprechen. Im angewandten Recht soll der Name hinter der Sache zurücktreten, d.h. das willkürliche AufpfropfenPfropfung ist verboten und die Betonung |36|des Einen soll das Andere gerade ausschließen und zurücktreten lassen, damit entschieden werden kann.