Das Recht des Stärkeren ist an sich so wenig neu wie die Fabeln de la Fontaines. Das »Poststrukturalistische« in der Rechtskonzeption Derridas – mit diesem Ausdruck wird sie gelegentlich eingeordnet[124] – besteht nur darin, Gewalt nicht als das Andere des Rechts auszusperren und einhegen oder zähmen zu wollen, sondern sie jederzeit präsent zu halten und damit zu leben. Mit der Rechtsgewalt lebte Derrida persönlich vom 30.12.1980 bis zum folgenden Neujahrstag, als er |37|in der damals noch dem »Ostblock« angehörigen ČSSR verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde wegen Drogenbesitzes[125]. Berühmt und von vielen beschützt, wie Derrida damals schon war, wurde der Vorwurf (den gewöhnliche Drogenkuriere niemals loswerden) nach weniger als 48 Stunden fallen gelassen. Die Stunden dazwischen hinterließen gleichwohl eine bleibende Spur. Dem Recht unterlegt Derrida eine detaillierte »Gespenstergeschichte«, in der eine Institution die Hauptrolle spielt, die jeder kennt, die immer Recht hat (oder haben will) und doch nicht selten und vor allem professionell gewaltsam Unrecht durchsetzt: die Polizei. Das Gespenstische der Polizei benennt Derrida mit und in einer alten Studie von Walter BenjaminBenjamin, Walter aus dem Jahre 1921 unter dem Titel »Zur Kritik der Gewalt«[126]. In dieser Studie versucht BenjaminBenjamin, Walter Rechtssetzung und Rechtserhaltung voneinander zu unterscheiden[127], und Derrida fällt auf[128], dass BenjaminBenjamin, Walter die Polizei nicht als Hüterin des Gesetzes ausmacht, die nur dort vertreten wäre, »wo Gesetzeskraft existiert«. Denn gleichzeitig bringt die moderne Polizei das Gesetz, »von dem man annimmt, dass sie es eigentlich bloß anwendet«[129], auch hervor. Ohne Polizei bleibt das Recht kraftlos, ausgedacht und ohne Durchsetzungsmacht. Damit ist die zentrale Stelle der gegenwärtigen Rechtstheorie bezeichnet, die alle postmodernen Motive orchestriert: Es gibt keine Trennung zwischen Anwendung und Setzung, zwischen Herstellung und Darstellung des Rechts, zwischen Entscheidungsfindung und deren Begründung, und doch halten wir an diesen Unterschieden fest. Sie sind selbst schon Teil eines gewaltsamen und gespenstischen Rechtsauftritts.
Die MetapherMetapher des Gespensts behält Derrida bei. Ausgerechnet das Erbe von Karl MarxMarx, Karl interpretiert er als Gespenstergeschichte, aber nicht wegen des gespenstischen Staatssozialismus, sondern wegen der transfaktischen Aufforderung, etwas zu rächen, was noch im Unrechtszustand blüht. Literarisches Symbol dafür ist Hamlet. Ohne Hamlet kommt keine Rechtskenntnis aus, und wer Hamlet kennt, weiß, weshalb man dem Unrecht nur widerstehen kann, wenn man das Gespenst nicht verscheucht, sondern sich mit ihm verbündet. Es ist ein »ehrliches Gespenst« (1. Akt, 5. Szene), dem man zuhören soll, und es gibt ein Zeichen, das deutlich macht, dass etwas fehlt und denjenigen, der Gespenster sieht, von der Gegenwart in eine Zeit drängt, die nicht die jetzige ist. Entweder fehlt für eine nicht abzuweisende Bedeutung aktuell ein Ausdruck, und dieser Ausdruck drängt sich gespenstisch zur Unzeit auf, scheinbar ohne Anlass und ganz unvernünftig, oder einem aktuellen Ausdruck ist die eigentliche Bedeutung abhanden gekommen. Sie wurde verdrängt und tritt zur Unzeit wieder hervor, spukt scheinbar ohne Anlass und schürt die Angst. Die Formel dazu stammt von Shakespeare, und Derrida interpretiert sie so:
|38|Wir untersuchen diesen Augenblick, der sich der Zeit nicht fügt, zumindest nicht dem, was wir so nennen. Verstohlen und einzig gehört das Erscheinen des Gespensts nicht dieser Zeit da an, es gibt nicht die Zeit, nicht diese da: Enter the Ghost, exit the Ghost, re-enter the Ghost[130].
So fremd und abseitig wie diese Regieanweisungen klingen, so viel Interpretationen und Rechtsbelehrungen haben sie bewirkt. Programmatisch ist zunächst dies festzuhalten: Die dekonstruktiven Operationen legen jene zwei Gewalten offen, die innerhalb des Rechts für Unruhe sorgen: auf »der einen Seite die Entscheidung ohne entscheidbare Gewissheit, auf der anderen die Gewissheit des Unentscheidbaren – aber ohne Entscheidung«[131]. Daraus entsteht eine erstaunliche, viel zitierte These[132], die lautet: Die DekonstruktionDekonstruktion ist die GerechtigkeitGerechtigkeit.
Sie findet sich schon gleich zu Beginn jener zweiteiligen Vorlesung, die in ihrem zweiten Teil die eben referierte Darstellung BenjaminsBenjamin, Walter zur Gewalt enthält. Derrida trug dazu auf der Conference for Critical Legal Studies in New York im Jahre 1989 vor. Adressaten waren rechtsskeptische Juristen der politischen Linken, und Derrida wurde als Sprecher eingeladen, um ihnen für das Recht eine Methode vorzustellen, die 1989 in der Interpretation von Literatur, Kunst und Philosophie – eben als »DekonstruktionDekonstruktion« – bereits einen Namen hatte[133]. Die Dekonstruktion trennt GerechtigkeitGerechtigkeit und Recht, was in der rechtsphilosophischen Tradition als durchaus bekannt gelten kann. Zur Gerechtigkeit muss man erst gelangen, man hat sie nicht. Gerechtigkeitsbewegungen kennen keine Fixpunkte, sondern machen das Scheitern des Rechts deutlich. So radikal hat es die alte Rechtsphilosophie aber nicht gesehen. Der Gerechtigkeit nähert man sich dekonstruktiv, indem man: konkrete Ungerechtigkeiten denunziert, solche Ungerechtigkeiten, die dort geschehen und deren Wirkungen besonders sinnfällig sind, wo das gute und ruhige Gewissen dogmatisch bei dieser oder jener überkommenen Bestimmung der GerechtigkeitGerechtigkeit stehenbleibt[134].
Damit wird der elementare Protest geadelt, der gleichzeitig die Bindung an bestimmte einzelne Elemente aufkündigt. Der Dogmatiker, der Jurist mit dem sprichwörtlich immer guten Gewissen, der dieses Gewissen für die Bestimmung der GerechtigkeitGerechtigkeit verwaltet – dieser Jurist sieht über kleinere oder größere Ungerechtigkeiten hinweg, solange das System im Ganzen erhalten bleibt und nicht in seinem Bestand gefährdet ist. Der Dogmatiker denunziert nicht, er verarbeitet neue Elemente im Rahmen des alten Systems.
Dennoch ist die Denunziation konkreter Ungerechtigkeit von einer Dogmatik der GerechtigkeitGerechtigkeit nur einen Steinwurf weit entfernt. Wer den Stein werfen will, |39|muss die Gerechtigkeit schon in seinem Rücken wissen. Er fühlt sie als Motiv und ist sich ihrer sicher, auch wenn er sie nicht in Sätzen beschreiben kann. Denunziation und Protest setzen insofern eine andere, nur scheinbar entgegengesetzte zweite Bewegung voraus, ohne die man Ungerechtigkeiten gar nicht beim Namen nennen kann. Man kann es nur, wenn man wenigstens in einem konkreten Moment ein entsprechend konkretes Bild davon hat, was gerecht wäre, wie Recht »jetzt, im gegenwärtigen Zeitpunkt« sein müsste[135] – und gleichzeitig kann man das doch nicht wissen, weil das Ganze sich aus der Partialperspektive nicht erfassen lässt. In dieser paradoxen Doppelung liegt alles das beschlossen, was Derrida selbst einen »Wahn« nennt. Der Wahn umkreist die Idee der Gerechtigkeit, die immer bejaht, die eine »Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft und ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens« fordert[136]. Diese Forderung setzt etwas als konkret, etwas, das man einen Zustand nennen könnte, und die Aufkündigung des realisierten Zustands hält dieses Etwas wieder in der Schwebe. Es ist so wirklich wie unwirklich. Die Frage nach Gerechtigkeit begnügt sich nicht mit Rückzugspositionen, sie will geltendes, konkretes Recht