Das ist nicht wenig. In der deutschen Methodenlehre herrscht bis zum heutigen Tage die stillschweigende Hintergrundannahme, das Gesetz bestimme die Entscheidung. Ein solches Dogma bestimmt die kontinentale universitäre Juristenausbildung, auch wenn es dadurch verfeinert wird, es seien mit und neben dem Gesetz weitere Texte zu berücksichtigen, deren Bedeutung oder Geltungssinn die Rechtlichkeit einer Entscheidung ausmachen soll. Der Einwand gegen die DekonstruktionDekonstruktion geht beispielsweise dahin, dass sich hinter einer Ethik des Anderen auch nichts anderes als der Gleichheitssatz verberge[162]. Das universalistische Potential menschlicher Sprachen werde dabei unterschätzt[163]. Der Rechtsanwender habe sich wie der Adressat von Rechtsnormen »an der generellen Norm |44|zu orientieren«, so dass die von Derrida beförderte Einzelfallorientierung die Hauptfunktion des Rechts, seine Regelhaftigkeit[164], bedrohe. Auch in der Rechtstheorie wird die Philosophie Derridas bis auf Weiteres nur als Mittel zu Infragestellungen einer Regel vorgestellt[165].
Grundlegende Qualität entfalten Derridas Texte erst in einer Methodenlehre, die in operative Einzelheiten zerlegt, was Rudolf Wiethölter programmatisch so umformuliert: Nicht Rechtsanwendung, sondern »Rechts-Gewinnung« als Begründung in Anwendung, eher »Herstellung« als »Darstellung« charakterisiere die juristische Arbeit[166]. Friedrich Müller und Ralph Christensen setzen diese Bewegung in Methodik um mit der Formel, das »rechtsstaatlich Zulässige« sei vor der Folie des »methodisch Möglichen« zu bestimmen, sodass der Gesetzestext ein heterogenes »Gewebe von DifferenzenDifferenz« enthalte[167], dessen Sinn in einem gestuften Konkretisierungsvorgang zu bestimmen, aber nicht, auch nicht in der Form einer gesetzlichen Regel vorgegeben sei. Der Normtext wird im dekonstruktiven Sinne als Eingangsgröße für die Arbeit der Konkretisierung verstanden, enthalte sie aber nicht bereits[168]. Müller/Christensen zeigen an der neu entstandenen europäischen Rechtsordnung und Rechtsprechung, dass der Normtext erst dadurch funktioniere, dass er von einer vordefinierten Bedeutung durch den »Sender« abgeschnitten sei. Marc Amstutz untersucht dazu die Wirkungsweise des europarechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung und bezeichnet den Prozess als »evolutorische Kollisionsauflösung«[169]. Es wird zu einer dekonstruktiven Operation, bei jeder neuen Verwendung zu berücksichtigen, dass der Sinn einer Norm nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben »und neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft« werde[170]. In der Regensburger Habilitation von Joachim Goebel waren schon im Jahre 2001 Vorschläge enthalten, wie man »Traditionsschutt«, den der angeblich überlieferte Gesetzestext angehäuft habe, wieder wegräumen könne, nämlich durch ein Rechtsgespräch als Gegenmittel zu »überbordender Theorie«[171] und Medium zur Artikulation »des Anderen«[172]. Goebels Arbeit ist am Privatrecht orientiert und vertieft demgemäß |45|die gesprächsorientierten Normen der ZPO, von dessen Magna Charta (§ 139 I ZPO) über § 278 ZPO bis zu Art. 103 GG[173]. In der Betonung des Rechtsgesprächs kann man eine Reverenz an die UnentscheidbarkeitUnentscheidbarkeit sehen, die Derrida als Grundlage und Ergebnis aller paradoxalen Sprachbemühungen hervorgehoben hat. Ihr entspricht die mit Derrida und LévinasLévinas, Emmanuel entwickelte Mediationskultur von Stephan Schmitt[174]. Im Medium der Gerichtsstatistik und als Tendenz ausgedrückt: Es wird zunehmend mehr verglichen und weniger entschieden[175].
E. Zur Lektüre
Um einen eigenen Eindruck von der Arbeit der DekonstruktionDekonstruktion zu gewinnen, ist es unerlässlich, eigene Texte von Derrida zu lesen. Wer literarisch interessiert ist (d.h. auch Kafka liest), sollte mit der Studie vor dem Gesetz (Préjugés) beginnen. Wer politisch argumentiert, wählt stattdessen den Essay über Schurken. In jedem Fall muss man den Vortrag zur Gesetzeskraft lesen. Einen Einstieg vermittelt auch der kurze Text zur Politik des Eigennamens, der von der Gründungsurkunde der amerikanischen Verfassung handelt. Zum Verfahren der Dekonstruktion ist die Literatur nicht mehr zu übersehen, denn als Interpretationsstil oder -methode wird sie in der Literaturwissenschaft gebraucht und hat dort einige Zeit lang als besonders angesagt gegolten. Ich bevorzuge heute den schönen und im Verhältnis zu Derrida kongenialen Text von John Caputo und empfehle im Übrigen den Überblick des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Culler. Für deutsche Freunde der Systemtheorie bietet sich Niklas LuhmannsLuhmann, Niklas Aufsatz zur Dekonstruktion an. Was die juristische Rezeption anbelangt, kann man grundsätzlich von Gunter TeubnerTeubner, Gunther lernen. Die derzeit beste Derrida-Anwendung – in ihrem Fall von MarxMarx, Karl’ Gespenster – bietet Christiane Wilke.
F. Literaturhinweise
Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität« (1990), Frankfurt am Main 1991.
ders., Préjugés. Vor dem Gesetz (1985), Wien 1992.
ders., Schurken. Zwei Essays über die Vernunft (2003), Frankfurt am Main 2006.
ders./Caputo, John D., Deconstruction in a nutshell: a conversation with Jacques Derrida, New York 1997.
|46|ders./Kittler, Friedrich, Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht (1984), Berlin 2000.
Culler, Jonathan, Dekonstruktion (1982), Reinbek 1988.
Luhmann, Niklas, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001.
Teubner, Gunther, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Joerges, Christian/Teubner, Gunther (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht. Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2003, 25–45.
Wilke, Christiane, Enter Ghost: Haunted Courts and Haunting Judgments in Transitional Justice, Law Critique 21, 2010, 73–92.
|47|SystemtheorieSystemtheorie des Rechts: Teubner und Luhmann
Kolja Möller
Die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts knüpft an Erkenntnisse der Soziologie zur funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft an. Der Ausgangspunkt besteht darin, dass sich Gesellschaften in einem andauernden Evolutionsprozess befinden. Er ist von der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Teilsysteme – wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und auch Recht – gekennzeichnet, die ihre KommunikationKommunikation selbstreferentiell schließen und sich auf je eigene Funktionen spezialisieren: »Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen lässt, auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert«[176]. Demnach wird auch Recht als ein sich selbst konstituierendes Sozialsystem verstanden. Es verkettet Kommunikationen, die sich am Code Recht/UnrechtUnrecht orientieren, und verweist alle anderen Kommunikationen in seine soziale Umwelt.
Die Grundlagen für die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts haben vor allem der Soziologe Niklas LuhmannLuhmann, Niklas und der Rechtstheoretiker Gunther TeubnerTeubner, Gunther ausgearbeitet[177]. Beide verbinden