Die behauptete interne Verknüpfung zwischen RechtsstaatRechtsstaat und DemokratieDemokratie erklärt, warum wir die Rechtstheorien von MausMaus, Ingeborg und HabermasHabermas, Jürgen als demokratischen PositivismusPositivismus einführen. Wenn wir die Positionen beider als Positivismus |14|bezeichnen, so stellt dies die etatismuskritische und anti-expertokratische Pointe beider Theorien in den Vordergrund. Unter Positivismus versteht man, dass zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, keine notwendige Beziehung besteht; das heißt, dass die rechtliche Geltung eines Gesetzes nicht davon abhängt, wie der Inhalt dieses Gesetzes ausfällt[20]. Für »demokratischen Positivismus« trifft dies, abgesehen von seiner Festlegung auf demokratische Rechtserzeugung, ebenfalls zu: Er motiviert den Respekt vor inhaltlich beliebigen rechtlichen Normen und Entscheidungen mit dem Respekt für eine nichtbeliebige Rechtsquelle. Die Funktion eines solchen Positivismus liegt nun nicht darin, die Begründungsbedürftigkeit oder Begründungsfähigkeit von Gesetzen abzuwehren. Vielmehr soll ausgeschlossen werden, dass bei der Anwendung von Gesetzen in Justiz und Verwaltung und beim Regierungshandeln Spielräume geltend gemacht werden, die mit einer demokratischen Programmierung der staatlichen Instanzen nicht verträglich sind. Der Trennung zwischen Recht, wie es ist, und Recht, wie es sein soll, liegt also selbst ein normatives Argument zugrunde.
A. DiskurstheorieDiskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats: HabermasHabermas, Jürgen
Für HabermasHabermas, Jürgen’ Rechts- und Demokratietheorie ist neben der Kritischen TheorieKritische Theorie und der politischen Theorie der Aufklärung die von HabermasHabermas, Jürgen entwickelte DiskurstheorieDiskurstheorie der dritte normative Bezugspunkt. Das Konzept des Diskurses übernimmt eine zentrale Funktion für die Rechtserzeugung. HabermasHabermas, Jürgen’ Demokratieprinzip besagt nämlich, dass »nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechtsetzungsprozess die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können«[21]. In diesen »rechtlich verfassten diskursiven« Prozess gehen pragmatisch-technische, ethische (d.h. auf das gute Leben gerichtete) und auch moralische Argumente ein. Dass ein Rechtsetzungsprozess »diskursiv« verläuft, impliziert auch, dass eine interne Hierarchie zwischen diesen Argumenttypen berücksichtigt wird und sich pragmatische von ethischen, ethische von moralischen Argumenten übertrumpfen lassen[22]Habermas, Jürgen. Mit der Logik von Diskursen wäre es unverträglich, dass gegenüber moralischen Bedenken gegen eine zu verabschiedende Norm auf die |15|gemeinsame ethische Identität einer Population gepocht würde[23]. Was es heißt, dass ein Rechtsetzungsprozess »rechtlich verfasst« abläuft, dafür formuliert HabermasHabermas, Jürgen’ »System der Rechte« notwendige Bedingungen. Das System der Rechte trägt die Beweislast dafür, dass Recht und DemokratieDemokratie einander nicht abstrakt entgegengesetzt, sondern aus einander entwickelt werden. Personen müssen in der Ausübung ihrer rechtsetzenden Tätigkeit selbst als Träger von Rechten vorgestellt werden. Dazu müssen sie HabermasHabermas, Jürgen zufolge über fünf Kategorien von Rechten verfügen, deren konkrete Ausgestaltung allerdings völlig offen und der demokratischen Interpretation überantwortet ist. Sie brauchen zunächst Grundrechte auf Handlungsfreiheiten, auf Mitgliedschaft in einer Rechtsgemeinschaft und auf Rechtsschutz. Die Erfüllung dieser drei Ansprüche ist die Voraussetzung dafür, dass ihnen in einem nächsten Schritt auch Bürgerrechte auf die Ausübung politischer Autonomie eingeräumt werden können. Schließlich stehen ihnen, soweit es für eine chancengleiche Ausübung ihrer Handlungsfreiheit und Aktivbürgerschaft erforderlich ist, auch soziale Rechte zu[24].
Diese fünf Typen von Rechten fallen nicht vom Himmel – es sind Ansprüche, die als Voraussetzungen einer sozialen Praxis identifiziert werden, nämlich der, die gemeinsamen Angelegenheiten mit Mitteln des positiven Rechts legitim zu regeln. An einer solchen Praxis interessierte Bürger müssen sie sich daher gegenseitig einräumen. Es handelt sich ausdrücklich nicht um moralische Menschenrechte, die jedem von Natur aus zustehen: damit betont HabermasHabermas, Jürgen den Umstand, dass letztlich freigestellt ist, ob die Wahl der Mittel für die Konfliktbearbeitung innerhalb einer Population zugunsten der Rechtsform ausfällt[25]. Dieses voluntaristische Moment in der Aufnahme rechtlicher Beziehungen stützt die positivistische, nicht-naturrechtliche Position. Für jede Ordnung in Rechtsform sind die genannten Kategorien von Rechten dennoch verbindlich; sie sind so etwas wie grammatische Regeln einer Sprache. Wenn man sich mithilfe des »Rechtscodes« ausdrückt, um konfliktregulierende Normen zu formulieren, ist man auf die Berücksichtigung egalitärer subjektiver Ansprüche einer und eines jeden festgelegt[26]. Und obwohl juristische Rechte, wie gesagt, nicht aus der Moral abgeleitet werden, lässt sich mit der Idee eines Systems der Rechte jedes politische Gemeinwesen, das einen Anspruch darauf erhebt, überhaupt eine Rechtsordnung zu sein, einen Kernbereich der Menschenrechte aber nicht respektiert, von innen unter |16|Legitimationsdruck setzen[27] – dies gilt für politische und für nicht-politische Rechte gleichermaßen, und unabhängig von völkerrechtlichen Verpflichtungen, auf die wir im Schlussabschnitt eingehen werden. Die Komplementarität von Recht und DemokratieDemokratie in der wechselseitigen Verleihung von Rechten besteht mithin nicht nur darin, dass mit kommunikativen Rechten ausgestattete Personen an Rechtsetzungsprozessen uneingeschränkt teilnehmen können. Das System der Rechte stattet Personen gleichzeitig mit einem grundsätzlichen Schutz ihrer privaten Lebensentscheidungen aus, so dass sie sich dem starken Vergemeinschaftungsdruck, der politischen Prozessen anhaften kann, auch entziehen können. Im Gegensatz zu allen anderen Diskursen gibt es in rechtlich strukturierten einen ausdrücklichen Anspruch darauf, sich aus dem Diskurs zurückzuziehen[28]. Die für Rechtsverhältnisse grundlegende »kommunikative Freiheit« besitzt zwei Seiten: sie besteht ebenso sehr darin, Argumente in Diskursen geltend zu machen, wie solche Diskurse abzubrechen.[29]
Der Staat kommt in HabermasHabermas, Jürgen’ Konzeption erst dadurch ins Spiel, dass eine effektive Organisations- und Durchsetzungsgewalt des Rechts erforderlich wird – eine Serviceleistung für Recht und DemokratieDemokratie, die allein der Staat bisher anbietet. Die Staatsapparate folgen allerdings einer anderen Logik als praktische Diskurse: sie verständigen sich über administrative Macht, die ebenfalls in Rechtsform weitergegeben wird. Die Notwendigkeit, nicht nur Prozesse der Rechtsanwendung und -durchsetzung, sondern auch Rechtsetzungsprozesse staatlich zu institutionalisieren, bringt nun einerseits verschiedene Kompromittierungen der idealisierten Diskursprozedur mit sich: die Beschränkung auf einen kontingent-abgegrenzten demos, die Bewältigung von Zeitdruck für das Fällen bindender Entscheidungen, die Einführung des Mehrheitsprinzips, die Delegierung von rechtserzeugenden Diskursen an Parlamente usw.[30]. Dabei werden auf das Recht bezogene staatsbürgerliche Diskurse nicht vollständig institutionell absorbiert, sondern wandern zum Teil in die informelle politische Öffentlichkeit ab. Andererseits soll die administrative Macht der staatlichen Organe weiterhin ausschließlich von der »kommunikativen Macht«, die in demokratischer Rechtsetzung erzeugt wird, autorisiert werden. Die Autorisierungsbedürftigkeit |17|jeglichen staatlichen Handelns durch kommunikative Macht bringt auch ein neues Verständnis von Gewaltenteilung mit sich. Die Gesetzgebung und die ihr nachgeordneten Instanzen von Justiz und Verwaltung lassen sich »nach Kommunikationsformen und entsprechenden Potentialen von Gründen differenzieren«[31]: Im Gegensatz zur Gesetzgebung haben Verwaltung und Justiz keinen Zugriff auf das gesamte Spektrum von pragmatischen, ethischen und moralischen Gründen (das von ihnen ansonsten im Extremfall auch contra legem geltend gemacht werden könnte). Sie müssen daher »von der Gesetzgebung getrennt und an einer Selbstprogrammierung gehindert werden«[32]. Dass auch die Rechtsprechung über »die in Gesetzesnormen gebündelten Gründe nicht beliebig verfügen« kann, ist ein Aspekt der ursprünglich von Klaus Günther entwickelten Unterscheidung zwischen Normbegründungs- und Anwendungsdiskursen, die Richtern im Falle offenbar kollidierender Rechtsnormen nicht gestattet, diese Normen auf ihre praktische Vernünftigkeit zu überprüfen, sondern ihre Erörterungen im gegebenen Fall an der Frage ihrer Situationsangemessenheit ausrichtet[33]. Sie erlaubt die Differenzierung zwischen unparteilicher Anwendung und moralischer Beurteilung von Normen, zu der Richter kein Mandat haben. Derselbe Typ von »Sichtblende« (Ingeborg MausMaus, Ingeborg) gegenüber substantiellen Erwägungen von Ethik und Moral verhängt der Verwaltung einen Rückgriff auf eigenständige, von ihrer gesetzlichen Programmierung unabhängige, Legitimationsressourcen.
Charakteristisch für HabermasHabermas,