Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Год издания: 0
isbn: 9783846345269
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in diesem Staat ist der Reichstag, dessen Leiter und bloßes Ausführungsorgan der Kaiser. Monarchische Elemente sind nur in der „administratio accidentalis“, der vom Kaiser im Auftrag der Reichsstände (bei denen die originäre „administratio essentialis“ liegt) ausgeübten Reichsverwaltung, vorhanden. Zeremonielle Tradition und „tönende Titel“ sagen nichts mehr über das Wesen der Verfassung aus. Der Reichstag wird als unvergleichbar mit Versammlungsgremien anderer Staaten besonders hervorgehoben. Jeden Vergleich mit dem römischen Staat weist Ch. unter Hinweis auf die deutsche Geschichte zurück.

      Neben diese Doktrin hält Ch. im 2. Teil die Verfassungswirklichkeit und kommt zu einer flammenden Anklage gegen das Haus Habsburg, die „familia Germaniae nostrae fatalis“, schwächer auch gegen die Kurfürsten, die unberechtigt Privilegien an sich gerissen haben, und schließlich gegen alle Territorialherren, die sich im Wunsch nach Beendigung des Krieges seit 1635 (Prager Friede) wieder stärker dem Kaiser zugewendet hatten.

      In seinem Begriff der Staatsräson folgt Ch. Arnold Clapmar, der gezeigt hatte, daß jede Staatsform ihre eigene Staatsräson habe. So konnte er jetzt genau sagen, was diese aristokratische Staatsräson denn nun zu tun gebiete. Ch. benutzte also die – nur durch ius divinum, religio, pietas, fides, iustitia und naturalis honestas eingeschränkte – Staatsräson zu einem antiabsolutistischen Zweck; er wurde damit ungewollt zum Vorkämpfer des fürstlichen (territorialen) Absolutismus. Aus den Maximen dieser Staatsräson leitet er im 3. Teil die Mittel ab, mit deren Hilfe die Aristokratie im Reich verwirklicht werden soll:

      Amtskaisertum mit nur „simulacra maiestatis“ (nicht „iura maiestatis“). – Um die durchaus mögliche Abspaltung Österreichs vom deutschen Reich nach der geforderten Neuwahl eines Kaisers aus anderem Hause zu verhindern, empfiehlt er die „exstirpatio Domus Austriacae“, die Ausschaltung der Habsburger als Kaiserfamilie und als Reichsstand. Die Erblande sollten dann als Reichsdomäne eingezogen werden. → PufendorfPufendorf, Samuel (1632–1694) vermerkte in seinem „Monzambano“ zu dieser Forderung, Ch. spiele hier mehr den Henker als den Arzt.

      Einigkeit der Reichsstände – durch Beendigung der religiösen Streitigkeiten und eine vom Reichstag zu erlassende Amnestie.

      Alles staatliche Handeln soll nur mit Zustimmung der Stände geschehen. – Dazu fordert Ch. die Wiederbelebung des Reichstags, der zwischen 1613 und 1640 nicht zusammengetreten war, und zu dessen |99|Entlastung die Wiederherstellung des (1530 aufgelösten) Reichsregiments als zentralen Regierungsorgans. – Schließlich soll ein stehendes Reichsheer eingerichtet werden.

      Das Widerstandsrecht begründet Ch. aus dem Homagium, das dem Reich und dem Kaiser als bloßem Amtsträger geleistet wird. Bei Gesetzesuntreue verliert der Kaiser automatisch sein Amt, d.h. er muß auf Grund des Reichseides als Reichsfeind auch mit Waffen bekämpft werden.

      Die teilweise sehr einseitige Quellenausschöpfung (die Goldene Bulle wird beispielsweise nur anerkannt, soweit sie den Fürsten Rechte gewährt, während sie etwa in bezug auf die alleinige Bündniskompetenz des Reichs als unverbindlich zurückgewiesen wird) war bei den damaligen Publizisten keine Seltenheit. Man wird sie Ch. nicht vorwerfen dürfen.

      Bezeichnend für die Dissertatio ist die Radikalität, mit der Ch. seine Forderung vortrug. Hierin übertraf er seine Zeitgenossen. Sein Ziel war es, die Stände und das Reich in die von ihm als Recht erkannte Verfassung zu bringen und dem Kaiser „die Larve der Majestät abzureißen“. Eine rein zerstörerische Absicht, das Reich für den Zugriff Schwedens zu schwächen, ist ihm jedoch nicht nachzuweisen, da er durchaus Vorschläge für eine starke Zentralgewalt machte, die allerdings nach seinen Vorstellungen ständisch sein sollte.

      Eine direkte Wirkung auf seine Zeit, etwa auf die Propositionen Schwedens und Frankreichs im Westfälischen Friedenskongreß, ist nicht zu erkennen, obwohl eine Reihe seiner Forderungen 1648 realisiert wurde. Bis ins 19. Jh. hinein griff man auf den Hippolith zurück, wenn es darum ging, die öffentliche Meinung gegen Österreich zu erregen.

      Bedeutender noch als die „Dissertatio“ ist Ch.s „Königlich schwedischer in Teutschland geführter Krieg“, eine sehr genaue Aktenkompilation der schwedischen Kriegshandlungen von 1630 bis 1646. Die vier Teile erschienen 1648 (1. Teil), 1653 (2. Teil); 1855 (1. Buch des 3. Teiles und 4. Teil nach einem aufgefundenen Manuskript). Der Wert des Werkes besteht darin, daß ein großer Teil der wiedergegebenen Akten im Original bei einem Brand verlorengegangen ist. L. v. Ranke gibt Ch. durchaus den Vorrang vor → PufendorfPufendorf, Samuel (1632–1694); der in seinem Geschichtswerk auf den „Königlich schwedischen Krieg“ aufgebaut, aber in späterer Zeit aus anderer Perspektive manche Hintergründe falsch dargestellt hat.

      Hauptwerke: (Hippolithus a Lapide): Dissertatio de Ratione Status in Imperio nostro Romano-Germanico, o.O. 1640, Freystadii 1647. – Königlich schwedischer in Teutschland geführter Krieg, 1648 (1. Tl), 1653 (2. Tl.), 1855 (1. Buch d. 3. Tls. und 4. Tl.).

      |100|Literatur: H. Breßlau: Einleitung zur Übersetzung von Pufendorfs „De statu imperii Germani liber“, in: Klassiker der Politik, Bd. 3, 1922, 19–25. – W. Burgdorf: Reichskonstitution und Nation, 1998, 56–62. – F. Dickmann: Der Westfälische Frieden, 21965, 137–142. – R. Hoke: Hippolithus a Lapide, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. M. Stolleis, 21987, 118–128. – R. Hoke: Staatsräson und Reichsverfassung bei Hippolithus a Lapide, in: Staatsräson, hrsg. v. R. Schnur, 1975, 407–425. – J.J. Moser: Bibliotheca iuris publici, Bd. 3, 1734, 898–923. – L. v. Ranke: Über Chemnitz und Pufendorf in: Zwölf Bücher Preußischer Geschichte, Bd. 3, Analekten 4, 1874 (Ausg. München 1930, 401–411). – F.H. Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966, 554–578. – Stintzing-Landsberg: GDtRW II, 45–54. – T. Vielhaber: Bogislaus von Chemnitzs „Dissertatio de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico“ (1640): Reformprojekt oder Hetzschrift gegen die Habsburger Kaiser?, in: Neulateinisches Jahrbuch 12 (2010), 343–362. – E. Weber: Hippolithus a Lapide, in: HZ 29 (1873), 254–306. – F.X. v. Wegele: Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, 1885 (Ndr. 1965), 358–361. – E. Wolf: Idee und Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsleben des 16. und 17. Jh., in: Reich und Recht in der deutschen Philosophie, hrsg. v. K. Larenz, Bd. 1, 1943, 117–120. – ADB 4 (1876), 114–116 (E. Weber). – HRG2 I (2008), 833 (C. Hattenhauer). – Jur.Univ II, 385–387 (F.J. Andrés). – NDB 3 (1957), 198–200 (F.H. Schubert).

      P.

       [Zum Inhalt]

      Samuel von CoccejCocceji, Samuel v. (1679–1755)i

      (1679–1755)

      Den Beginn der Justizreformen des Aufklärungszeitalters bezeichnet in Preußen das Wirken Samuel von Coccejis, des im Oktober 1679 in Heidelberg geborenen dritten Sohnes des Professors des Natur- und Völker-, Lehns- und Pandektenrechts Heinrich v. C. (Mutter: Marie Salome Howard, Tochter des württbg. Kanzlers H.). Nach Studium in Frankfurt/Oder dort 1699 unter dem Präsidium seines Vaters Doktor-Disputation über ein naturrechtliches Thema (De principio juris naturalis unico vero et adaequato). Die anschließende Bildungsreise |101|führt ihn drei Jahre lang durch Italien, Frankreich, England und die Niederlande. 1702 Professor iuris ordinarius in Frankfurt und 1703 Doktorpromotion. 1704 bricht C. die akademische Laufbahn ab und tritt in den preußischen Justiz- und Verwaltungsdienst ein, zunächst als Rat, seit 1710 als Regierungsdirektor in Halberstadt, 1711–13 für Preußen Teilnahme an der Visitation des Reichskammergerichts. Sein in dieser Zeit entstehendes „Jus civile controversum“ (Teil I 1713, Teil II 1718) empfiehlt ihn für die mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. in Preußen einsetzenden Justizreformen. 1714 zum Geh. Justiz- und Ob.-Appellations-Gerichts-Rat ernannt, wurde er 1718 nach Königsberg entsandt, um im Königreich Preußen für die