Das Werk gliedert sich nach dem römischen Institutionensystem in drei Teile (personae, res, actiones), wobei mehr als drei Viertel auf den (unvollendeten) Abschnitt über das Aktionenrecht entfallen. In diesem stellt der Verfasser anhand der verschiedenen Klagetypen und -formeln (lat. brevia, engl. writ), die sich seit dem 12. Jahrhundert entwickelt hatten, das gesamte Common Law (Privat-, Lehn-, Strafrecht) dar. Neben dem System hat der Verfasser auch Begriffe, Definitionen und Begründungen der Kanonisten und Glossatoren herangezogen. Namentlich die Summa Institutionum des → Azo v. BolognaAzo (vor 1190–1220) diente ihm |83|als Vorlage. Die Formulierung → MaitlandsMaitland, Frederic William (1850–1906), wonach das Werk „romanesque in form, english in substance“ sei, ist durch neuere Forschungen als ungenau erkannt. Wenngleich eine systematische Rezeption nicht stattgefunden hat, lassen sich in der Abhandlung rund 500 Stellen aus den Digesten und dem Codex nachweisen, bei denen der Verfasser materielle Anleihen beim römischen Recht gemacht hat. Im Strafrecht vertrat B. die Auffassung, dass neben der objektiven Handlung auch ein subjektiver Tatbestand (mens rea) vorliegen müsse.
Bei der Abfassung verwertete der Verfasser eine Sammlung von ca. 2000 Fällen aus der Rechtsprechung der königlichen Gerichte (überwiegend solche der beiden Richter und Geistlichen Pattishall und Raleigh) und war damit der erste, der Präjudizien benutzte. Diese Fallsammlung konnte erst Ende des 19. Jahrhunderts von Vinogradoff zugeordnet werden und wurde darauf von → MaitlandMaitland, Frederic William (1850–1906) als „Bracton’s Note-book“ herausgegeben. Die methodische Einführung der Präzedenzfälle mit Autoritätscharakter muss vor dem Hintergrund der Rechtsentwicklung zwischen → GlanvilleGlanville, Ranulf de (1120/30–1190) und B. gesehen werden, die durch eine zunehmende Verselbständigung des Richterstandes und durch das Gewicht bedeutender Richterpersönlichkeiten in den höchsten Staatsämtern gekennzeichnet ist. Das große Verdienst des Verfassers war, dass er durchweg die besten und bewährtesten Verfahrensweisen der königlichen Gerichtshöfe zum Gegenstand seiner Darstellung machte, entsprechend seiner in der Einleitung angeführten Intention, den Richtern eine Anleitung an die Hand zu geben. Die englischen Juristen wurden durch die Abhandlung mit den Methoden, Regeln und Begriffen ausgerüstet, die sie für die rationale Durcharbeitung und Anwendung ihres heimischen Rechts brauchten. Das lernten sie in den bald entstehenden Inns of Court nicht, weil dort kein römisches Recht gelehrt wurde, während die Universitäten kein Common Law betrieben. Das Werk leistete damit auch einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung eines englischen Juristenstandes.
Die Abhandlung „De legibus et consuetudinibus Angliae“, von → MaitlandMaitland, Frederic William (1850–1906) als „the flower and crown of english jurisprudence“ gewürdigt, übertrifft an Gehalt und Bedeutung sowohl die ähnlich betitelte Schrift → GlanvillesGlanville, Ranulf de (1120/30–1190), als auch die im 15. Jahrhundert entstandenen Werke von Fortescue („De laudibus legum Angliae“) und Littleton („On Tenures“). Sie wurde zum Vorbild der gesamten Rechtsliteratur unter Eduard I. („Fleta“, „Britton“, „Hengham Magna“ und die „Summa de legibus“ Gilbert de Thorntons). Nachdem sie 1596 erstmals im Druck erschien, erlebte sie eine Renaissance als „book of authority“ |84|des Common Law und gewann Einfluss auf die staatsrechtlichen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts. „Bracton enjoyed a second life as a suitably venerable source of texts supporting a constitutional monarchy“ (J.H. Baker). Als maßgebliche Aufzeichnung des älteren englischen Rechts wurde sie erst im 18. Jahrhundert durch die „Commentaries“ → BlackstonesBlackstone, Sir William (1723–1780) ersetzt.
Nicht unterschätzt werden darf auch die Rolle, die das Werk bei der Bildung des englischen Staates spielte. Für die verschiedenen lokalen Herrschaftsbereiche im England des 13. Jahrhunderts waren die königlichen Gerichtshöfe, die unter Heinrich III. mit dem Sitz in London vereinigt wurden, die einzige Rechtsquelle für ein gemeinsames Recht. „From this viewpoint the most important events in the thirteenth-century making of an English state were Bracton’s compilation of ‚The Laws and Customs of England‘ and the continuation of the work of the law-book writers in semi-official registers of writs and collections of statutes.“ (Alan Harding)
Hauptwerke: Bracton, On the laws and customs of England (De legibus et consuetudinibus Angliae), ed. by G.E. Woodbine, translated with revisions and notes by S.E. Thorne, Vols. 1 and 2 1968, Vols. 3 and 4 1977 (Text bei http://bracton.law.harvard.edu). – Bracton’s Note Book. A collection of cases decided in the king’s courts during the reign of Henry III., ed. by F.W. Maitland, 3 Vols., 1887. – Bibliographie bei H.H. Jakobs: De similibus ad similia bei Bracton und Azo, Frankfurt a.M. 1996, 125ff.
Literatur: J.L. Barton: Roman Law in England (IRMAE V,13a), 1971, 13ff. – Ders.: Bracton as a civilian, in: Tulane Law Review 42 (1968), 555ff. – Ders.: The mystery of Bracton, in: Journal of Legal History 14,3 (1993), 1ff. – P. Brand: The Date and Authorship of Bracton, in: Journal of Legal History 31 (2010), 217ff. – H. Brunner: Abhandlungen zur Rechtsgeschichte II, 1931, 585ff. – R. v. Caenegem: The birth of the english Common Law, 21988. – H.M. Cam: Law-Finders and Law-Makers in Medieval England, 1962. – W. Fesefeldt: Englische Staatstheorie des 13. Jh., Henry de Bracton und sein Werk, Diss. Göttingen, 1962. – C. Güterbock: Henricus de Bracton und sein Verhältnis zum Römischen Rechte, 1862. – H.H. Jakobs: De similibus ad similia bei Bracton und Azo, Frankfurt a.M. 1996. – W.C. Jordan: On Bracton and Deus Ultor, in: Law Quarterly Review 88 (1972), 25ff. – H. Kantorowicz: Bractonian Problems, 1941 (Hrsg. D.M. Stenton). – H. Keyishian: Henry de Bracton, Renaissance Punishment Theory, and Shakespearean Closure, in: Law and Literature 20 (2008), 444ff. – G. Lapsley: Bracton and the Authorship of the „addicio de certis“, in: English Historical Review 52 (1947), 1ff. – E. Lewis: King above Law. Quod principi placuit in Bracton, in: Speculum 39 (1964), 240ff. – B. Lyon: A constitutional and legal history of medieval England, 21980, 431ff. – C.A.F. Meekings: Studies in 13th Century Justice and Administration, 1981, VII 141ff. – S.J.T. Miller: The Position of the King in Bracton and Beaumanoir, in: Speculum 31 (1956), 263ff. – T.F.T. Plucknett: Early English |85|Legal Literature, 1958, 42ff., 61ff. – G. Post: A Romano-canonical maxim „quod omnes tangit“ in Bracton, in: Traditio 4 (1946), 197ff. – Ders.: Bracton on Kingship, in: Tulane Law Review 42 (1968), 519ff. – H.G. Richardson: Bracton: The problem of his text, 1965. – Ders.: Azo, Drogheda and Bracton; Tancred, Raymond and Bracton, in: English Historical Review 59 (1944), 22ff., 376ff. – Ders.: Studies in Bracton, in: Traditio 6 (1948), 61ff. – F. Schulz: Critical Studies on Bracton’s Treatise, in: Law Quarterly Review 59 (1943), 172ff. – Ders.: Bracton and Raymond de Penaforte, in: Law Quarterly Review 61 (1945), 286ff. – Ders.: Bracton as a Computist, in: Traditio 3 (1945), 265ff. – Ders.: Bracton on Kingship in: L’Europa e il diritto romano: Studi in memoria di Paolo Koschaker I, 1954, 21ff. – D.J. Seipp: Bracton, the Year Books and the „transformation of elementary legal ideas“ in the early Common Law, in: Law & History Review 1989, 175ff. – A. Simonius: „Lex facit regem“ (Bracton): Ein Beitrag zur Lehre von den Rechtsquellen (Basler Studien zur Rechtswissenschaft 5), 1933. – P. Stein: Roman Law in European History, 1999. – S.E. Thorne: Essays in English legal history, 1985, 75ff., 93ff. – B. Tierney: Bracton on Government, in: Speculum 38 (1963), 295ff. – R.V. Turner: