T. Moosheimer
|92|Benedikt CarpzovCarpzov, Benedikt (1595–1666)
(1595–1666)
Der eigentliche Begründer einer deutschen gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft und praktisch wie wissenschaftlich vielleicht einflußreichste deutsche Jurist überhaupt wurde am 27. Mai 1595 als zweiter Sohn des gleichnamigen Juristen und Professors in Wittenberg geboren. Nach philosophischen, sehr bald aber ausschließlich juristischen Studien in Wittenberg, Leipzig und Jena 1619 Promotion in Wittenberg. Die anschließende Bildungsreise nach Süddeutschland, Italien, Savoyen, Frankreich, England und den Niederlanden muß er hier abbrechen, als er im April 1620 zum außerordentlichen Beisitzer des Leipziger Schöppenstuhles berufen wird. 1623 ordentlicher Assessor, 1633 Senior dieses Spruchkollegiums; 1636 zugleich Assessor beim Leipziger Oberhofgericht, 1639 Rat im Appellationsgericht. 1640 Ausschlagung einer Berufung an den Weimarer Hof. 1644 Berufung als kursächsischer Hofrat nach Dresden, doch schon nach vier Monaten Rückkehr nach Leipzig, wo er Ordinariat und Dekretalenprofessur an der Universität übernimmt, daneben die erste Assessur beim Hofgericht, die er nun mit dem Seniorat des Schöppenstuhles in seiner Person vereinigt. 1653 in den Geheimen Rat des Kurfürsten nach Dresden berufen, gibt C. seine anderen Ämter bis auf die Assessur beim Appellationsgericht auf. 1661 zieht er sich für das Alter nach Leipzig zurück, wo er noch fünf Jahre als Beisitzer am Schöppenstuhl wirkt. Am 30.8.1666 ist C. in Leipzig gestorben.
C.s wissenschaftliche Bedeutung ist aufs engste mit seiner Tätigkeit an den sächsischen Gerichten, insbesondere am Leipziger Schöppenstuhl verbunden. Dieses 1574 vom sächsischen Kurfürsten neu ins Leben gerufene Dikasterium, dessen Vorgänger, der Leipziger Oberhof, das angesehenste Spruchkollegium in den Gebieten des sächsischen Rechts gewesen war, verkörperte in seiner Rechtsprechung die Verschmelzung des einheimischen sächsischen, auf dem Sachsenspiegel |93|(→ EikeEike von Repgow (zw. 1180 u. 1190 – nach 1232)) beruhenden, mit dem rezipierten römischen Recht zum „gemeinen Sachsenrecht“.
Nach einem frühen staatsrechtlichen Versuch, dem wohl unter dem Einfluß der Jenaer Schule des → D. ArumaeusArumaeus, Dominicus (1579–1637) entstandenen, zwar von Unrichtigkeiten wimmelnden, doch schon das deutsche vom römischen Staatsrecht trennenden und von der großen systematisierenden Kraft seines Autors zeugenden „Commentarius in legem regiam Germanorum“ (1623), wandte sich C. einer damals neuartigen Aufgabe zu, die ihn zum Begründer einer eigenständigen deutschen Strafrechtswissenschaft werden ließ: der Erschließung der Rechtsprechung des Leipziger Schöppenstuhles und des Dresdener Appellationsgerichts durch systematische, an klare Definitionen anknüpfende, die theoretischen Zusammenhänge dieser Judikatur hervorhebende Darstellung. Auf 400 Foliobände waren die Entscheidungen des Schöppenstuhles angewachsen – eine gewaltige Menge, deren theoretische Durchdringung angesichts der präjudiziellen Bedeutung, die jeder dieser Entscheidungen zukam, an die wissenschaftlich-systematisierende Kraft C.s höchste Anforderungen stellen mußte.
1635 erschien erstmals C.s Hauptwerk, die „Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium“, 1638 der „Peinliche Inquisitions- und Achtprozeß“, durch die er die Entwicklung der Strafrechtspflege noch 120 Jahre nach seinem Tode, bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus, nachhaltig prägen sollte. Mehrere Gründe erklären wohl die Wirkung dieser fast gesetzliche Autorität genießenden Werke: die geschlossene Darstellung der angesehenen Leipziger Spruchpraxis besaß wegen ihrer Wirklichkeitsnähe besondere Überzeugungskraft, diese beruhte daneben auf der Berücksichtigung des einheimischen Rechts, das seit C. neben der bis dahin auch in Deutschland fast ausschließlich herrschenden italienischen Doktrin zunehmend wissenschaftliche Bearbeitung fand, da C. andererseits auf den italienisch-gemeinrechtlichen Lehren aufbaute und allenthalben auf das Reichsrecht der Carolina (→ SchwarzenbergSchwarzenberg, Johann v. (1465–1528)) zurückgriff, sicherte er der „Practica“ ihren Einfluß weit über den sächsischen Rechtsbereich, und schließlich mußte die differenzierte Strafzumessungslehre das Werk gerade für die Praxis unentbehrlich machen.
Diese Strafzumessungslehre resultierte aus einem Hauptanliegen C.s: die Anwendungsbereiche von poena ordinaria und extraordinaria oder arbitraria (ordentliche u. außerordentliche Strafe) voneinander abzugrenzen. Schon die Carolina hatte dem Richter unter bestimmten Voraussetzungen die Ermäßigung – wohl auch Schärfung – der |94|ordent lichen Strafe anheimgestellt. Hierfür entwickelte C. aus der Leipziger Praxis entnommene Regeln, die neben anderen Tatumständen insbesondere das Maß des Täterverschuldens berücksichtigten. Dadurch wurde die „Practica“ zum Meilenstein in der Entwicklung der Schuldlehre.
C. ist von späteren wegen der Härte des in der „Practica“ entwickelten Strafensystems als unmenschlich, bigott, ja, als „juristisches Ungeheuer“ angegriffen worden. In der Tat erschloß C., selbst frommer Lutheraner, der 53mal die Bibel gelesen haben soll und jeden Monat das Abendmahl empfing, von seiner Auffassung her, daß die Strafe den Respekt vor der Obrigkeit herstellen, spezial- und generalpräventiv wirken, insbesondere aber die Versöhnung Gottes durch Tatvergeltung am Verbrecher, ja durch dessen Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft bewirken müsse, der Todesstrafe einen weiten Anwendungsbereich, nicht nur bei Delikten gegen das Leben, sondern auch bei den Sittlichkeits- und Religionsdelikten, wo sie teilweise schon außer Übung, teilweise jedenfalls zweifelhaft war (→ GrotiusGrotius, Hugo (Huig de Groot) (1583–1645) hatte 10 Jahre zuvor das Recht zu strafen auf Delikte gegen die menschliche Gemeinschaft und einzelne Menschen beschränkt). Doch wäre die Wirkung C.s nicht erklärlich, hätte seine harte, theokratische Strafauffassung, die auf die Bibel, insbesondere auch das Alte Testament als geltendes Recht zurückgriff – nicht nur in ihrer Gliederung lehnt sich die „Practica“ an den Dekalog an –, nicht dem Geist einer Zeit entsprochen, die der Verwilderung im Gefolge des 30jährigen Krieges eine abschreckende Strafrechtspflege glaubte entgegensetzen zu müssen. Immerhin folgte aus dieser theokratischen Sicht auch die durchgehend festzustellende Weigerung C.s, die Angehörigen der höheren Stände bei der Strafverhängung zu privilegieren, und von Gerechtigkeitssinn wie Lebenserfahrung zeugt sein Beharren auf einem rationalen Beweisverfahren (Ablehnung der noch gebräuchlichen Bahrprobe) und den prozeßrechtlichen Garantien für den Angeklagten („in dubio autem mitior poena eligenda est“). Im Prozeß gegen Hexen, an deren Existenz C. keineswegs zweifelte, treten diese Garantien zurück, obwohl C. ansonsten bei den delicta excepta nur die Überschreitung des Strafmaßes, nicht ein Abgehen von den Verfahrensregeln zulassen will.
Allgemein ist C.s Dogmatik erkennbar von dem Bemühen bestimmt, die Verurteilung eines Angeklagten nicht an Beweisschwierigkeiten scheitern zu lassen. So insbesondere bei der von C. im Anschluß an die Doktrin des „versari in re illicita“ entwickelten dolus-indirectus-|95|Lehre (Zurechnung aller, auch unbeabsichtigten, wenn nur voraussehbaren