Einen Auftrag zur Wiederaufnahme der Reformen erhielt C. erst nach dem Regierungsantritt Friedrichs II. Zunächst allerdings wurde er 1741 nach Schlesien entsandt, um die Reorganisation dieser im ersten Schlesischen Kriege neu erworbenen Provinz durchzuführen. In den |102|Verhandlungen mit dem Breslauer Bischof Sinzendorf, in denen er das Territorialprinzip (→ J.H. BöhmerBöhmer, Justus Henning (1674–1749)) durchzusetzen suchte, zeigte er sich als konsequenter Gegner der katholischen Kirche, was ihm noch im 19. Jahrhundert die Wertschätzung kulturkämpferischer preußischer Juristen eintrug. 1744 wurde C. die Organisation des an Preußen gefallenen Ostfriesland übertragen. Mit dem Jahr 1746 beginnen die eigentlichen Coccejischen Justizreformen. Das Institut der Aktenversendung wurde zunächst auf preußische Rechtsfakultäten beschränkt und dann ganz aufgehoben (20.6.1746), die Rechtsprechung damit den Rechtsfakultäten entzogen und allein den Justizbehörden vorbehalten, so daß nun sämtliche Rechtspflegeorgane unter staatlicher Aufsicht standen und innerhalb dieser Organe ein geordneter Instanzenzug notwendig wurde. Die Ernennung C.s zum „Großkanzler“ 1747 (etwa dem Justizminister entsprechend) war Ausdruck der neuen Justizorganisation. Es folgte die Justizreform in Pommern, die dort zur Erledigung fast aller alten Prozesse bis Anfang 1748 führte. Sodann kamen die Mark Brandenburg und die übrigen Provinzen an die Reihe. Überall zeitigte die von dem schon im 7. Lebensjahrzehnt stehenden C. mit Energie, aber auch Rücksichtslosigkeit durchgeführte Reform der Rechtspflege, wie sie auf Grund des Codex Fridericiani Pomeranici v. 6. Juli 1747, des Codex Fridericiani Marchici v. 3. April 1748 sowie der Tribunals-Ordnung v. 1748 durchgeführt wurde, die Erledigung der alten Prozesse – über 10000 davon wurden in den Jahren bis 1755 zu Ende geführt.
C. hat stets daran festgehalten, daß die Justizreform ohne Kodifikation auch des materiellen Rechts, ohne ein „jus certum“, nicht zu vollenden sei. Mit dem „Projekt des Corporis Juris Fridericiani“ wollte er den Schlußstein setzen. Schon Anfang 1749 konnte er dessen ersten Teil, das Personenrecht, vorlegen, 1751 erschien das Sachenrecht, doch das Obligationenrecht, 1753 fertiggestellt, ging bei einer Versendung des Manuskripts verloren. Das Alter hinderte C. daran, diesen Verlust noch einmal wettzumachen – das Werk blieb unvollendet und trat, da nur als Entwurf zur Begutachtung gedacht, auch in den erhalten gebliebenen Teilen nicht in Kraft. Am 4.10.1755 ist C. gestorben.
Das Wirken C.s bedeutet einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zum Ausbau der Justiz als „Dritter Gewalt“ in Preußen. Nicht als ob C. jemals an Unabhängigkeit der Rechtspflege durch Gewaltentrennung im Sinne → MontesquieusMontesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brède et de M. (1689–1755) gedacht hätte; er hat nie das oberstrichterliche Amt des absoluten Herrschers an sich in Frage gestellt. Aber die Tendenz zur Verselbständigung des Juristenstandes war in seinen Reformen angelegt. Das eigentlich Neue an diesen Reformen |103|war, daß sie nicht mehr nach den Vorbildern der vorangegangenen zwei Jahrhunderte bei der Revision und Ergänzung des materiellen Rechts ansetzten, auch nicht einer unzulänglich gebildeten Richterschaft den Gesetzesinhalt stärker zu verdeutlichen suchten, sondern die Qualität der Rechtspflegeorgane zu heben unternahmen. Nur von einer besser ausgebildeten, qualifizierten Richterschaft erwartete C., daß sie die Gesetzesbefehle des Herrschers in eine schleunige und zweifelsfreie Rechtsprechung werde umsetzen können. So geht die Einführung des juristischen Vorbereitungsdienstes und der juristischen Staatsexamina auf C. zurück. Die zuverlässige Bindung des Richters an das Gesetz, in den Reformgesetzen wiederholt eingeschärft, war also das Motiv auch für die Reform der Juristenausbildung. Auch die auskömmliche Besoldung der Justizbedienten, damals keineswegs selbstverständlich und von C. stets als Kernpunkt der Reformen betrachtet, diente diesem Ziel: Der Richter sollte nicht mehr aufs „Sportulieren“, also Gebührenschinden, angewiesen sein und so von sachfremden Erwägungen frei bleiben; zugleich sollte dadurch der Anreiz zur Prozeßverschleppung beseitigt und das Prozessieren auch für den Ärmeren wirtschaftlich tragbar werden.
In welchem Maße die Coccejische Justizreform einem gewandelten Staatsverständnis entsprochen hat, zeigt der Verzicht Friedrichs d. Gr. auf „Machtsprüche“ (1748), also auf Eingriffe in schwebende Gerichtsverfahren oder auf die Abänderung gerichtlicher Entscheidungen. Als der König dieser Selbstbeschränkung untreu wurde und 1779 im Müller-Arnold-Prozeß einen Machtspruch fällte, zeigte die einhellige Ablehnung, auf die dieser Schritt des Königs bei der Richterschaft stieß, die Wirkung der Reformen C.s: Eine neue Schicht von Richterbeamten mit Korpsgeist war entstanden, dem Recht und dem Staat – notfalls auch gegenüber der Person des Herrschers – verpflichtet. Aus ihr stammten auch die aufgeklärten Reformer (→ SvarezSvarez, Carl Gottlieb (1746–1798)), die 1794 mit dem ALR das Werk C.s zu seinem eigentlichen Abschluß bringen sollten.
Hauptwerke: Jus controversum civile, 2 Tle., 1713–18; spätere Auflagen, 1727–29, 1740, 1779, u.d.T.: Jus civile controversum. – Novum systema jurisprudentiae naturalis et Romanae, 1740. – Grotius illustratus, 4 Bde., 1744–1752. – Project des Codicis Fridericiani Pomeranici, 1747. – Project des Codicis Fridericiani Marchici, 1748. – Project einer Tribunals-Ordnung, 1748. – Project des Corporis Juris Fridericiani, 2 Tle., 1749/51.
Literatur: K. Darkow: Samuel Freiherr von Cocceji. Zum 300. Geburtstag des Kammergerichtspräsidenten und preußischen Großkanzlers am 20.10.1979, in: DRiZ 1980, |104|65–69. – H. Klemm: Samuel von Cocceji, in: 200 Jahre Dienst am Recht, hrsg. v. Fr. Gürtner, 1938, 305–330. – H. Mohnhaupt: Zur Kodifikation des Prozeßrechts in Brandenburg-Preußen: Samuel von Coccejis „Project des Codicis Fridericiani Marchici“ von 1748, in: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas (FS f. J. Kunisch), 2000, 279–297. – H. Neufeld: Die friedericianische Justizreform bis zum Jahre 1780, Diss. jur. Göttingen, 1910. – H.P. Schneider: Die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Leibniz und den beiden Cocceji (Heinrich und Samuel), in: Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen, hrsg. v. H. Thieme, 1979, 90–102. – W. Sellert: Samuel von Cocceji, ein Rechtserneuerer Preußens, in: JuS 1979, 770–773. – M. Springer: Die Coccejische Justizreform 1914. – Stintzing-Landsberg: GDtRW III, I (Text) 215–221, (Noten) 138–141. – A. Stölzel: Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, Bd. 2, 1888, 50–235. – F.A. Trendelenburg: Friedrich der Große und sein Großkanzler Samuel von Cocceji, 1864. – M. Weigert: Der Nummerntöter, in: Bayer. Verwaltungsbl. 2001, 519–523. – H. Weill: Judicial reform in 18th-century Prussia. S. v. Cocceji and the unification of the courts, in: The American journal of legal history 4 (1960), 226–240. – H. Weill: Frederick the Great and Samuel von Cocceji. A Study in the Reform of the Prussian Judicial Administration 1740–1755, 1961. – ADB 4 (1876), 373–376 (R. v. Stintzing). – HRG2 I (2008), 859f. (I. Ebert). – Jur., 137f. (I.K. Ahl). – Jur.Univ II, 520–522 (X.