Hermann ConringConring, Hermann (1606–1681)
(1606–1681)
Geb. 9.11.1606 in Norden, Ostfriesland; Vater: prot. Prediger (Lutheraner), in C.s Familie eine Reihe von Juristen, ein Nachkomme C.s war → Rudolf von JheringJhering, Rudolf von (1818–1892); 1613–1620 nach überstandener Pest-Erkrankung Besuch der Lateinschule in Norden; 1620 erregt C. die Aufmerksamkeit eines Helmstedter Professors, der ihn an die dortige Universität holt; 1625 Fortsetzung des inzwischen aufgenommenen Medizinstudiums in Leiden, hier lernt C. → Hugo GrotiusGrotius, Hugo (Huig de Groot) (1583–1645) kennen; 1631 als Erzieher im Hause des braunschweigisch-wolfenbüttelschen Kanzlers; 1632 Lehrstuhl für Naturphilosophie |105|in Helmstedt; 1636 Promotion zum Dr. phil. und Dr. med., Verheiratung; kurz darauf auch Professor der Medizin; 1650 Professor für Politik, nachdem er schon vorher, angeregt durch → LampadiusLampadius, Jacob (1593–1649), staatsrechtliche, historische und politische Studien betrieben hatte; gestorben am 12.12.1681 in Helmstedt.
C. wurde nach einer durch Krankheit und Wissensdrang verkürzten Jugend ein vielseitig gebildeter Gelehrter; er verdient es, daß man ihn als Polyhistor bezeichnet. Auf dem Gebiet der Medizin war er eine geachtete Größe. Er vertrat die damals aufkommende Lehre Harveys vom Blutkreislauf. Verschiedene Titel als Leibarzt deutscher und ausländischer Fürsten (u.a. der Königin v. Schweden) werden allerdings nicht nur aus seinem medizinischen Ruhm zu erklären sein, sondern hier haben sicher auch politische Interessen eine Rolle gespielt. Als Protestant war er ein Gegner des habsburgischen Kaisertums. Während seines Studiums in Leiden schloß er sich den Arminianern an, einer von den Calvinisten abgespaltenen reformierten Gruppe. Es war ihm ein leichtes, die Herrschersouveränität, so wie sie sich im 17. Jh. immer mehr ausbildete, als ideale Herrschaftsform zu preisen. Dagegen bekämpfte er die Volkssouveränitätslehre des → AlthusiusAlthusius, Johannes (1557–1638) als eine den Staat gefährdende Aufruhrdoktrin. Herrschersouveränität bedeutete für ihn aber nicht Zentralgewalt des Kaisers, sondern Absolutismus der Territorialherren. Daher sieht er das Reich auch nicht als Monarchie an, sondern folgt der Lehre vom „status mixtus“ (→ BesoldBesold, Christoph (1577–1638)).
In seinen politischen Schriften wird die Staatsräson als oberste Richtschnur für den starken Fürsten dargestellt. Er betont jedoch in Auseinandersetzung mit Machiavelli, daß die Staatsräson keine bindungslose Machtpolitik rechtfertigt, sondern dem Glück der Staatsbürger dienen soll und durch sittliche und rechtliche Werte begrenzt ist (vgl. auch → ChemnitzChemnitz, Martin (1522–1586); ev. Theologe). Als Hilfsmittel der Politik entwickelt C. auch eine neue Wissenschaftsdisziplin: die empirische (nicht wie bisher theologisch-philosophische) „Staatenkunde“, die als Anfang der wissenschaftlichen Statistik betrachtet werden kann.
C.s besonderes Verdienst für die Rechtswissenschaft liegt darin, daß er als erster in seiner Zeit die Wurzeln des älteren – vor der Rezeption geltenden – deutschen Rechts freigelegt und umfassend dargestellt hat. Im Zusammenhang damit konnte er die damals vorherrschende Auffassung von der Übernahme des römischen Rechts, wonach Kaiser Lothar (III.) von Supplinburg das Justinianische Gesetzeswerk als Ganzes für das Reich verbindlich gemacht haben soll, in das Reich der Fabel verweisen. Das römische Recht sei nicht schon im 12. Jahrhundert und |106|nicht in complexu, sondern erst seit dem 15. Jahrhundert – durch den zunehmenden Einfluß der gelehrten Juristen – gewohnheitsrechtlich in unterschiedlichem Umfang rezipiert und das deutsche (partikulare) Recht dadurch keineswegs völlig verdrängt worden. Daß diese Lehre gut mit C.s kaiserfeindlicher Grundhaltung zusammenpaßte, ändert nichts an ihrer überzeugenden historischen Fundierung, durch die sie sich schnell allgemein durchgesetzt hat. C.s „De origine iuris Germanici“, von 1643 bis 1730 sechsmal aufgelegt, war Anfang und erster Höhepunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit deutscher Rechtsgeschichte. Noch heute wird immer wieder darauf hingewiesen, mit welch gutem Gespür C. zu Ergebnissen gekommen ist, die von späteren Forschungen weitgehend bestätigt wurden. Von C., dem Historiker und Mediziner ohne juristische Ausbildung, ging die deutsche Rechtsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin aus.
Über seinen Charakter ist viel gestritten worden: Besonders Erik Wolf sieht in ihm einen unruhigen, vom Drang zu bloßer Wissensanhäufung getriebenen Geist. Es wird auch oft hervorgehoben, daß C. seine Meinungen von den jeweils dafür versprochenen Vorteilen abhängig machte. Man muß jedoch bedenken, daß das 17. Jahrhundert andere Maßstäbe für die Beurteilung politischer Gesinnungstreue hatte als die Gegenwart. Andererseits wird man allerdings auch kein besonderes Nationalgefühl in C. hineinsehen dürfen. Er war Pragmatiker und spürte nicht etwa einem germanischen Kulturideal nach, wenn er sich um die deutsche Rechtsvergangenheit bemühte. Seine Abneigung gegen das Haus Habsburg und seine Eingenommenheit für den souveränen Fürstenstaat reichen als Motive für die Beschäftigung mit den germanischen Stammesrechten aus.
Seine nicht mehr bloß feststellende, sondern bereits kritische Methode brachte ihn zur Ablehnung des römischen Rechts als der „ratio scripta“, für die es die Humanisten gehalten hatten. Dadurch wurden aber wiederum die Naturrechtler des 17. Jhs. angeregt zu fragen, welches denn nun das vernünftige Recht sei.
Hauptwerke: De origine iuris Germanici, 1643, 31665, 61730 (auch in: Opera, VI, 77). Dt. Übers.: Der Ursprung des deutschen Rechts, hrsg. v. M. Stolleis, 1994. – De Germanorum Imperio Romano, 1643 (Opera, I,26). – De finibus Imperii Germanici, 1654 (Opera, I, 114). – De civili prudentia, 1662 (Opera III, 280). – De nomothetica, 1663. Dt. Übers.: Über die Gesetzgebung, in: H. Mohnhaupt (Hrsg.): Prudentia legislatoria, 2003, 7–94. – Exercitatio historico-politica de notitia singularis alicuius reipublicae, in: Opera, IV, 1. – Examen rerumpublicarum potiorum totius orbis, in: Opera, IV, 47. – Opera, 7 Bde., hrsg. v. I.W. Goebel, 1730, Ndr. 1970–73. |107|Bibliographie v. W.A. Kelly u. M. Stolleis, in M. Stolleis (Hrsg.): Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk, 1983, 535–572.
Literatur: A. v. Arnswaldt: De Vicariatus controversia. Beiträge Hermann Conrings in der Diskussion um die Reichsverfassung des 17. Jh.s, 2004. – H. Droste: Hermann Conring und Schweden. Eine vielschichtige Beziehung, in: Ius Commune 26 (1999), 337–362. – C. Fasolt: Past sense. Studies in medieval and early modern European history, Leiden 2014, Part 2. – N. Goldschlag: Beiträge zur politischen und publizistischen Tätigkeit Hermann Conrings, Diss. Göttingen, 1884. – H. Hattenhauer: Hermann Conring und die Deutsche Rechtsgeschichte, in: Schlesw.-Holst.-Anzeigen 1969, 69–76. – J. Helle: Große friesische Rechtsdenker: Hermann Conring, in: Justiz an der Jade, hrsg. v. W. Reinhart u.a., 1985, 489–513. – A. Jori: Hermann Conring (1606–1681): Der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte, 2006. – R. Knoll: Conring als Historiker, Diss. Rostock, 1889. – K. Kossert: Hermann Conrings rechtsgeschichtliches Verdienst, Diss. Köln, 1939. – W. Lang: Staat und Souveränität bei Hermann Conring, Diss. jur. München, 1970. – G. Lenz: Hermann Conring und die deutsche Staatslehre des 17. Jhs., in: ZStW 81 (1926), 128–153. – K. Luig: Conring, das deutsche Recht und die Rechtsgeschichte, in M. Stolleis (Hrsg.): Hermann Conring (s.o.), 355–395. – E. v. Moeller: Hermann Conring, der Vorkämpfer des deutschen Rechts, 1606–1681, 1915. – P. Oestmann: Kontinuität oder Zäsur? Zum Geltungsrang des gemeinen Rechts vor und nach Hermann Conring, in: A. Thier (Hrsg.): Kontinuitäten und Zäsuren in der europäischen Rechtsgeschichte, 1999, 191–210. – R. Schito: Zum Machiavelli Hermann Conrings, in: C. Zwierlein u.a. (Hrsg:): Machiavellismus in Deutschland, 2010, 95–107. – C. Schott: Hermann Conrings „Respublica Helvetiorum“, in: T.J. Chiusi u.a. (Hrsg.): Das Recht und seine hist. Grundlagen, 2008, 1051–1069. – Stintzing-Landsberg: GDtRW II, bes. 165–188. – O. Stobbe: Hermann Conring, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte (Breslauer Rektoratsrede), 1870. – M. Stolleis (Hrsg.): Hermann Conring (s.o., zahlreiche Beiträge). – M. Stolleis: Hermann Conring und die Begründung der deutschen Rechtsgeschichte,