In der Sache CDC führt der EuGH aus, dass sich aus den „verschiedenen nationalen Haftungsrechten“ die „Gefahr widersprechender Entscheidungen“ ergeben soll.89 Dies scheint im Widerspruch mit dem Obersatz zu stehen, wonach sich unterschiedliche Entscheidungen bei abweichenden Rechtslagen nicht widersprechen. Der EuGH führt vielleicht auch deshalb ergänzend an, es sei „gleichwohl darauf hinzuweisen“, dass die Unterschiedlichkeit der Rechtsgrundlagen als solche der Anwendung von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO nicht entgegenstehe, „sofern für die Beklagten vorhersehbar war, dass sie in dem Mitgliedstaat, in dem mindestens einer von ihnen seinen Wohnsitz hatte, verklagt werden könnten“.90 Diese Vorhersehbarkeit sei gegeben, „wenn eine verbindliche Entscheidung der Kommission vorliegt, mit der ein einheitlicher Verstoß gegen Unionsrecht festgestellt und damit die Haftung jedes Beteiligten für Schäden begründet wird, die aus unerlaubten Handlungen jedes an diesem Verstoß Beteiligten resultieren. Unter diesen Umständen mussten die Beteiligten nämlich damit rechnen, vor den Gerichten eines Mitgliedstaats verklagt zu werden, in dem einer von ihnen ansässig ist.“91
cc) Rücknahme der Klage gegen den „Ankerbeklagten“
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Der einmal wirksam begründete Gerichtsstand des Sachzusammenhangs soll auch nach Klagerücknahme gegen den „Ankerbeklagten“ erhalten bleiben.92 Damit bezieht sich der EuGH auf seine Rechtsprechung, wonach eine einmal begründete Zuständigkeit auch dann erhalten bleibt, wenn sich die zuständigkeitsbegründenden Umstände während des laufenden Verfahrens ändern (sog. perpetuatio fori).93
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Die Grenze sei erst im Falle einer rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung erreicht.94 Ein solcher Missbrauch liege vor, wenn die Klagevoraussetzungen mittels eines kollusiven Zusammenwirkens zwischen Kläger und dem „Ankerbeklagten“ künstlich herbeigeführt worden seien. Dies könne etwa dann der Fall sein, wenn ein zur Klagerücknahme führender Vergleich mit dem sog. „Ankerbeklagten“ tatsächlich schon vor Klageerhebung geschlossen, dann aber aktiv verschleiert oder künstlich hinausgeschoben worden sei, um den Gerichtsstand des Ankerbeklagten für sich instrumentalisieren zu können.95 Der bloße Umstand eines nach Klageerhebung erfolgten Vergleichsabschlusses genüge hierfür noch nicht, und zwar auch dann nicht, wenn schon vor Klageerhebung Vergleichsverhandlungen mit dem „Ankerbeklagten“ geführt worden seien.96 Der Missbrauch müsse mittels „beweiskräftiger Indizien“ nachgewiesen werden; die Beweislast treffe den/die Beklagten. Praktisch dürfte dieser Beweis kaum jemals zu führen sein.
dd) Konsequenzen für die gerichtliche Praxis und offene Fragen
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Dem Gerichtsstand des Sachzusammenhangs kommt nach dieser Entscheidung eine große Bedeutung für die Praxis multinationaler kartellrechtlicher Schadensersatzverfahren zu. Die durch den EuGH eröffnete Möglichkeit, vor dem Gericht eines Ankerbeklagten regelmäßig gegen alle (europäischen) Kartellbeteiligten Klage erheben zu können, ist aus Klägersicht äußerst attraktiv.97 Mit dem gewählten Forum lässt sich zudem oftmals die gewünschte materielle Rechtsordnung wählen, zumindest solange der Markt des Mitgliedstaates des angerufenen Gerichts auch „unmittelbar und wesentlich beeinträchtigt“ wurde. Dann nämlich eröffnet Art. 6 Abs. 3 lit. b Hs. 2 der Rom II-Verordnung dem Kläger die Möglichkeit, die Klage – gegebenenfalls auch gegen mehrere Kartellbeteiligte – einheitlich auf das materielle Zivilrecht des Forumstaates zu stützen. Und bei welchem paneuropäischen Kartell sind nicht die Heimatmärkte der jeweiligen Kartellteilnehmer zumindest argumentativ (schlüssig) auch unmittelbar und wesentlich beeinträchtigt? Zum Forum Shopping gesellt sich damit das Legislation Shopping.
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Es bleibt jedenfalls festzuhalten, dass das Vorliegen einer einheitlichen Sach- und Rechtslage in all jenen Fällen unproblematisch ist, in denen sich die Klage auf eine Kommissionsentscheidung stützt, mit der eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung festgestellt wurde.98
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Unklar sind immer noch die Folgen dieses Urteils für Klagen, die im Anschluss an Kommissionsentscheidungen ergehen, die keine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung feststellen. Unklar ist zudem, was bei noch nicht rechtskräftigen Kommissionsentscheidungen gilt bzw. was gelten soll, wenn die Kommissionsentscheidung später aufgehoben wird. Schließlich spricht der EuGH ausdrücklich von einer „verbindlichen“ Kommissionsentscheidung. Unklar ist auch, was bei Klagen im Anschluss an Entscheidungen anderer Kartellbehörden – etwa des BKartA – gelten soll. Offen bleibt auch, was bei der – an sich besonders schutzwürdigen – Stand-alone-Klage, also der Klage ohne vorherige Behördenentscheidung, gelten soll.99
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Weiter trifft die Entscheidung keine Aussage über die Anwendbarkeit des Gerichtsstands des Sachzusammenhangs auf konzernrechtlich verbundene Nichtadressaten der Kommissionsentscheidung. So etwa, wenn lediglich das Mutter- oder das Tochterunternehmen Adressatin einer Kommissionsentscheidung ist. Die Frage ist, ob dann die jeweilige Nichtadressatin (Mutter- bzw. Tochtergesellschaft) als Ankerbeklagte für eine Klage gegen alle Adressaten (einschließlich der Mutter- bzw. Tochtergesellschaft) herangezogen werden kann. In England wird dies bereits seit längerem großzügig gehandhabt.100 Wenn man mit dem EuGH auf die Vorhersehbarkeit einer Klageerhebung am allgemeinen Gerichtsstand der anderen Kartellteilnehmer abstellt, lässt sich die Argumentation wohl auch auf konzernrechtliche Verflechtungen erstrecken. Dagegen könnte angeführt werden, dass dann im Falle einer gegen ein internationales Großunternehmen erhobenen Klage in fast jedem Mitgliedstaat ein Gerichtsstand eröffnet wäre und der Grundregel vom Beklagtengerichtsstand in Art. 4 i.V.m. Art. 62, 63 EuGVVO praktisch keine Bedeutung mehr zukäme.101 Doch dürfte genau dies die Konsequenz der Skanska-Entscheidung sein. Der EuGH stellte klar, dass der unionsrechtliche Unternehmensbegriff aus dem Kartellbußgeldverfahren, der an das Unternehmen als wirtschaftliche Einheit anknüpft, auch für das Kartellprivatrecht maßgeblich ist.102 Mehrere Rechtsträger – insbesondere Mutter- und Tochtergesellschaften – bilden eine wirtschaftliche Einheit, wenn die Tochtergesellschaften ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmen können.103 Ein derart bestimmender Einfluss wird vermutet, wenn die Muttergesellschaft (nahezu) 100 Prozent der Anteile an einer Tochtergesellschaft hält.104 In einer solchen Konstellation haftet neben der am Kartellverstoß beteiligten Tochter auch die (unbeteiligte) Mutter gesamtschuldnerisch für Kartellschäden105 und kann in der Konsequenz als Ankerbeklagte gewählt werden. Noch nicht abschließend geklärt und derzeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH (Rechtssache Sumal), ist die Frage, ob auch die (unbeteiligte) Tochter- für ihre Muttergesellschaft und Schwestergesellschaften untereinander haften106 und entsprechend als Ankerbeklagte herangezogen werden können. Gegen eine solche Konzernhaftung wird vorgebracht, dass die Möglichkeit der Einflussnahme Haftungsvoraussetzung sei, woran es bei Töchtern gegenüber ihren Müttern und Schwestergesellschaften untereinander fehle.107 Überzeugender dürfte es sein, die Frage nach dem Bestehen und Ausmaß der wirtschaftlichen Einheit von der Frage nach der Haftung zu trennen.108 Nur für die Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit kommt es auf den bestimmenden Einfluss an. Sodann sind alle Rechtsträger der wirtschaftlichen Einheit haftbar.
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Beispiel: Rechtsträger M (Mutter), Rechtsträger T (Tochter) und Rechtsträger S (Schwester). An dieser Stelle kommt es auf das Kriterium des bestimmenden Einflusses an. Lässt sich dieses bejahen, also hat z.B. M 100 % Anteile an T und S (Akzo-Vermutung), bilden alle drei Unternehmen eine wirtschaftliche Einheit. Damit ist geklärt, welche juristischen Personen zum „Unternehmen“ im unionsrechtlichen Sinn gehören. Die Haftung folgt allein aus Zugehörigkeit zum Unternehmen. Es haftet nicht nur die juristische Person, die bestimmenden Einfluss hat (das wäre nur M bei Kartellverstößen von T und S), sondern alle Träger des Unternehmens (auch T bei Kartellverstößen von M und S). Der unionsrechtliche Unternehmensbegriff macht die wirtschaftliche Einheit als Ganzes zum Pflichten- und Haftungsadressaten.
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Die Rechtfertigung