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Teilweise wird Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auch auf Beklagte mit Sitz im Inland erstreckt, so dass sich in den beschriebenen Konstellationen die Zuständigkeit eines Gerichts für alle Beklagten direkt aus der Norm ergibt.70 Dies folge aus dem Wortlaut von Art. 8 EuGVVO, der im Vergleich zu Art. 7 EuGVVO keine Verschiedenheit von Wohnsitz- und Forumstaat fordere. Andernfalls würde man dem zentralen Anliegen der EuGVVO, im Interesse eines funktionierenden Binnenmarktes den grenzüberschreitenden Rechtsschutz zu vereinfachen, nicht gerecht. Denn ein Kläger müsste vor Klageerhebung bei einem deutschen Gericht zunächst ein umständliches Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durchführen, was ihm bei einer Klage in einem anderen Mitgliedstaat erspart bliebe.71 Auch unter Berücksichtigung schutzwürdiger Belange der beklagten Streitgenossen sei die Anwendung von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO sachgerecht. Ein Beklagter müsse im Anwendungsbereich der EuGVVO damit rechnen, an einem ausländischen Sitz eines Streitgenossen verklagt zu werden, so dass ihm erst recht ein Verfahren vor einem anderen inländischen Gericht zumutbar sei.72 Eine Gerichtsstandbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO sei in diesen Fällen ausgeschlossen. Nur ausnahmsweise könne – aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes und der Prozessökonomie – eine deklaratorische Zuständigkeitsbestimmung erfolgen, wenn das bereits mit der Sache befasste zuständige Gericht Zweifel an seiner Zuständigkeit geäußert hat.73 In diese Sinne hat auch das BayObLG jüngst ausgeführt, dass Art. 8 Nr. 1 EuGVVO dann zu einem gemeinsamen Gerichtsstand führen könne, wenn beide Beklagte im Inland ihren Sitz haben, solange der Kläger außerhalb des Forumstaates ansässig ist. Da jedoch mehrere Kläger aus dem In- und Ausland in Streitgenossenschaft gegen zwei inländische Beklagte vorgegangen sind, konnte Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auch nach Ansicht des BayObLG nicht zu einem gemeinsamen Gerichtsstand gegen alle Beklagten führen. Denn für die Klage deutscher Kläger gegen deutsche Beklagte fehle es an einem – für die Anwendbarkeit der EuGVVO erforderlichen – Auslandsbezug.74
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Andere halten Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auf Beklagte mit Sitz innerhalb der in Anspruch genommenen Jurisdiktion generell für nicht anwendbar.75 Die internationale Zuständigkeit folge bereits aus dem Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 EuGVVO, so dass die Anwendung der Ausnahmevorschriften in Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ausgeschlossen sei. Die Regelung nur der örtlichen Zuständigkeit stelle einen von der Verordnung nicht vorgesehenen Eingriff in das innerstaatliche Zuständigkeitssystem dar.76 Nach dieser Ansicht ist es bei mehreren inländischen Beklagten notwendig, nach Feststellung der internationalen Zuständigkeit, ein örtlich zuständiges Gericht innerhalb Deutschlands über das national vorgesehene Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zu bestimmen.77
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Es ist zu hoffen, dass zeitnah das Verhältnis von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO und § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO höchstrichterlich – sei es im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH nach Art. 267 AEUV oder durch eine Divergenzvorlage nach § 36 Abs. 3 ZPO durch den BGH – geklärt wird. Vieles spricht zumindest bei Kartellschadensersatzverfahren für den Vorrang von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO. De lege ferenda wäre ohnehin wünschenswert, das umständliche Zuständigkeitsbestimmungsverfahren gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durch einen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft abzulösen.78
bb) Konnexität bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen – CDC Hydrogen Peroxide
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In der Entscheidung CDC hat sich der EuGH (u.a.) mit dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bei kartellrechtlichen Follow-on-Schadensersatzklagen befasst. Eine Zweckgesellschaft hatte sich Ansprüche von Unternehmen abtreten lassen, die sich durch das von der Kommission bebußte sog. Wasserstoffperoxid-Kartell als geschädigt ansahen. Die Zweckgesellschaft mit Sitz in Belgien erhob anschließend Klage auf Auskunft und Schadensersatz vor dem LG Dortmund gegen sechs Adressaten der Bußgeldentscheidung. Die deutsche Evonik Degussa GmbH fungierte als Ankerbeklagte. Die übrigen Beklagten haben ihren Sitz in den Niederlanden, Belgien, Finnland, Frankreich und Spanien. Dem EuGH wurde u.a. die Frage vorgelegt, ob in einer solchen Konstellation der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs eröffnet sei. Eine Besonderheit war, dass sich die Klägerin bereits kurz nach Klageerhebung mit der Ankerbeklagten verglich und die Klage gegen sie zurücknahm. Es verblieben damit nur nicht-deutsche Beklagte vor einem deutschen Gericht. Der EuGH wurde daher weiter gefragt, ob der Wegfall des Ankerbeklagten etwas an der Zuständigkeit ändere.
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Der EuGH entschied, dass Art. 8 Nr. 1 EuGVVO im Grundsatz auf eine Mehrzahl von im Rahmen eines kartellrechtlichen Schadensersatzprozesses beklagten Unternehmen anwendbar sein kann, zumindest wenn es sich um eine Follow-on-Klage auf Basis einer Kommissionsentscheidung handelt und wenn eine einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung (single and continuous infringement) gegen das europäische Kartellverbot festgestellt wurde. Das gilt gleichermaßen für reine Auskunftsklagen wie auch für Schadensersatzprozesse.79 Eine solchermaßen begründete internationale Zuständigkeit entfällt dann auch nicht durch eine nachträgliche Klagerücknahme gegenüber dem Ankerbeklagten, zumindest soweit diese Klagerücknahme nicht bereits rechtsmissbräuchlich bei Klageerhebung geplant oder abgesprochen war.80
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Dabei hob der EuGH zunächst den Grundsatz hervor, dass die besondere Zuständigkeitsregel des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO restriktiv auszulegen sei, weil mit ihr „von der Grundregel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten in Art. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 abgewichen wird“.81 Eine solche Abweichung sei nur zur Verhinderung widersprechender Entscheidungen zulässig.82 Von einer „widersprechenden Entscheidung“ könne nicht schon bei abweichenden Entscheidungen gesprochen werden; es müssten die abweichenden Entscheidungen überdies bei „derselben Sach- und Rechtslage“ auftreten.83 Anschließend untersuchte der EuGH das Vorliegen derselben Sach- und Rechtslage „unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens“ und kam zu dem Ergebnis, dass beide Voraussetzungen erfüllt waren.84
(1) Einheitliche Sachlage
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Das Vorliegen einer einheitlichen Sachlage war nicht eindeutig, denn die Kommission hatte festgestellt, dass die Beklagten an der Umsetzung des in Rede stehenden Kartells durch den Abschluss und die Durchführung entsprechender Vereinbarungen räumlich und zeitlich unterschiedlich beteiligt waren.85 In concreto ging es um unterschiedliche Preis- und Vertriebspolitiken der Beklagten, um unterschiedliche zeitliche und räumliche Beteiligungen, um unterschiedliche Gewinne und auch um unterschiedliche Verschuldensgrade. Noch in der Entscheidung Roche Nederland hatte der EuGH in einem vergleichbaren Fall eine Identität der Sachlagen verneint, „da verschiedene Personen verklagt werden und die in verschiedenen Vertragsstaaten begangenen Verletzungshandlungen, die ihnen vorgeworfen werden, nicht dieselben sind“.86
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In der Entscheidung CDC stellt der EuGH nun auf die von der Kommission festgestellte „einheitliche und fortgesetzte“ Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot ab, die zum Vorliegen einer einheitlichen Sachlage führt. Damit stellt der EuGH wohl auf die Bindungswirkung seiner Entscheidung ab, welche die Sachlage vor den nationalen Gerichten insoweit tatsächlich vereinheitlicht. Ob unterschiedliche Tatsachen, welche von der Bindungswirkung nicht umfasst werden, eine andere Bewertung rechtfertigen können, ist offengeblieben.87
(2) Einheitliche Rechtslage
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Bei der Frage nach einer einheitlichen Rechtslage bei Follow-on-Kartellschadensersatzklagen ist zu berücksichtigen, dass die Rechtslage bezüglich des Haftungsgrundes – des Verstoßes gegen das europäische Kartellverbot – unzweifelhaft einheitlich ist.
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Fraglich ist hingegen die Einheitlichkeit der Rechtslage bezüglich der Haftungsfolgen. Diese Fragen werden weiter durch nationales Recht bestimmt, auch