Die Bestimmung des zuständigen Gerichtsstands kann erheblichen Einfluss auf die Erfolgsaussichten der Klage haben. Dies gilt nicht nur, weil sich die Durchführung eines kartellrechtlichen Schadensersatzprozesses nach dem Zivilprozessrecht des jeweils angerufenen Gerichtsstaates richtet (sog. lex fori). Vielmehr kann sich der Kläger im Anwendungsbereich der Rom II-Verordnung15 bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 lit. b auf die einheitliche Anwendung des materiellen Schadensersatzrechts des jeweiligen Forumsstaats für alle geltend gemachten Ansprüche berufen. Und auch außerhalb der Rom II-Verordnung besteht eine gewisse Tendenz der Gerichte, ihr eigenes materielles Recht bevorzugt anzuwenden (sog. „Heimwärtstreben“). Das ist auch den Klägern und potenziellen Beklagten nicht verborgen geblieben, weshalb beide versuchen, die Zuständigkeit eines genehmen Forums zu begründen. Das fällt den Klägern leichter, die sich aus mehreren zur Verfügung stehenden Gerichtsständen den am besten geeignet erscheinenden heraussuchen können (sog. Forum Shopping16). Die potenziellen Beklagten müssen hingegen, wenn sie Einfluss auf die Zuständigkeit nehmen wollen, einen Präventivangriff starten und eine negative Feststellungsklage in der gewünschten Jurisdiktion erheben (sog. Torpedoklage,17 siehe dazu unten Rn. 176ff.).
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Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit richtet sich nach dem Zivilverfahrensrecht des angerufenen Gerichtsstaates. Kartellrechtliche Sonderregeln für die Bestimmung des international zuständigen Gerichts gibt es in Deutschland nicht – hieran haben weder Kartellschadensersatzrichtlinie noch 9. GWB-Novelle etwas geändert. Auch mit der 10. GWB-Novelle gibt es insoweit keine Änderungen. Nach deutschem Zivilverfahrensrecht ist zunächst zu ermitteln, ob der Anwendungsbereich der EuGVVO18 eröffnet ist. Soweit dies der Fall ist, bestimmt sich die internationale – und damit regelmäßig auch die örtliche – Zuständigkeit ausschließlich hiernach.19 Die Regelungen der deutschen ZPO werden zur Bestimmung der internationalen und örtlichen Zuständigkeit dann herangezogen, wenn die EuGVVO entweder überhaupt nicht anwendbar ist oder soweit sie (etwa zur örtlichen Zuständigkeit) keine Regelung enthält.
1. Internationale und örtliche Zuständigkeit nach der EuGVVO
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Ausgangspunkt der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte ist die Frage, ob die vorrangige EuGVVO anwendbar ist. Ist der Anwendungsbereich der EuGVVO eröffnet, steht in aller Regel ein Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht im Raum. Dann haben deutsche Gerichte den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu berücksichtigen. Danach dürften die Modalitäten für Klagen wegen Verstößen gegen europäisches Wettbewerbsrecht nicht weniger günstig ausgestaltet sein als bei entsprechenden innerstaatlichen Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte darf nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (Effektivitätsgrundsatz).20
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Vorab eine Übersicht, der – vorbehaltlich einer vorrangigen Gerichtsstands- oder Schiedsvereinbarung – bei grenzüberschreitenden Kartellen eröffneten Zuständigkeiten nach der EuGVVO:
Ort | Normen (EuGVVO) | Kognitionsbefugnis | Anmerkungen | Relevanz | Randnummer |
---|---|---|---|---|---|
Sitz des Beklagten | Art. 4 I, Art. 63 I | Unbeschränkt | Heimatgericht des Beklagten, Zuständigkeit stets gegeben. | *** | 13ff. |
Sitz eines Beklagten als Ankerbeklagter | Art. 8 Nr. 1 | Unbeschränkt | Geklagt werden kann gegen alle Kartellbeteiligten, auch in Regressklagen. Grundlegend: CDC. Seit Skanska Erstreckung zumindest auf Konzernmütter als Ankerbeklagte. | *** | 27ff. |
Sitz des Geschädigten | Art. 7 Nr. 2 (Erfolgsort) | Unbeschränkt | Grundlegend CDC. Geht bei Abtretung nicht über; durch flyLAL und Tibor-Trans etwas unklar geworden. | ** | 70ff. |
Betroffener Markt (Marktort) und Ort des Schadenseintritts | Art. 7 Nr. 2 (Erfolgsort) | Unbeschränkt | Ähnlichkeit zu Art. 6 Abs. 3 Rom II. Fraglich, ob Marktort und Ort des Schadenseintritts kumulativ vorliegen müssen. Entscheidungen: flyLAL, Tibor-Trans | ** | 77ff. |
„Definitiver“ Gründungsort des Kartells | Art. 7 Nr. 2 (Handlungsort) | Unbeschränkt | Wird es in komplexen Fällen selten geben. Entscheidungen: CDC, flyLAL | * | 66f. |
Ort spezifischer Einzelabsprache | Art. 7 Nr. 2 (Handlungsort) | Beschränkt auf Schäden, die durch diese Absprache bewirkt wurden | Grundlegend: CDC | * | 68f. |
Ort der Durchführung einer Kartellabrede unter Verstoß gegen das Marktmissbrauchsverbot (Art. 102 AEUV) | Art. 7 Nr. 2 (Handlungsort) | Unbeschränkt | Ggf. bei einheitlicher Wettbewerbsstrategie – Rücktritt gegenüber dem Gründungsort des Kartells. Entscheidung: flyLAL | * | 75ff. |
a) Anwendbarkeit der EuGVVO
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Die EuGVVO ist auf kartellrechtliche Schadensersatzklagen sachlich anwendbar, weil es sich um „Zivil- und Handelssachen“ i.S.d. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO handelt.21 Das gilt auch dann, wenn ein Träger von Hoheitsgewalt aufgrund der Entrichtung mutmaßlich kartellbedingt überhöhter Preise eine kartellrechtliche Schadensersatzklage anstrengt22 oder wenn kehrseitig ein solches Verfahren gegen einen (unternehmerisch tätigen) Träger von Hoheitsgewalt eingeleitet wird. Ausgeschlossen werden lediglich Rechtsstreitigkeiten, die im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse stehen.23 Vom Anwendungsbereich ausgenommen sind damit alle Verfahren, in denen es um die öffentlich-rechtliche Durchsetzung des Kartellrechts geht, vor allem also Rechtsmittel gegen behördliche Bußgeld- oder Verwaltungsentscheidungen.
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Sachlich nicht anwendbar ist die EuGVVO auf außergerichtliche Vergleichsverfahren und Insolvenzverfahren (Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO) sowie auf Verfahren der Schiedsgerichtsbarkeit (Art. 1 Abs. 2 lit. d EuGVVO).
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Bei einer Regressklage zwischen Gesamtschuldnern ist zu differenzieren. Bei einem Gesamtschuldnerinnenausgleich nach einem behördlich verhängten Bußgeld soll die EuGVVO nicht anwendbar sein, weil der Innenausgleich unter den Kartellbeteiligten seinen Ursprung im hoheitlichen Handeln einer Behörde habe.24 Im Fall eines Innenausgleichs zwischen Gesamtschuldnern, die sich einer Schadensersatzklage von Kartellgeschädigten ausgesetzt sehen, handelt es sich hingegen um eine Zivil- und Handelssache i.S.d. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO.25
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Persönlich ist die EuGVVO auf Parteien anwendbar, die ihren Wohnsitz und damit einen allgemeinen Gerichtsstand innerhalb des Hoheitsbereichs der EuGVVO haben.26 Art. 63 EuGVVO bestimmt, dass Gesellschaften und juristische Personen ihren Wohnsitz an dem Ort haben, an dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung befindet. Dabei reicht es, dass der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat. Es steht der Anwendbarkeit der EuGVVO nicht entgegen, dass der Kläger aus einem Drittstaat kommt.27 Für Dänemark gilt die EuGVVO nicht unmittelbar, ihre Regelungen werden aber durch einen gesonderten Vertrag überwiegend auch auf Dänemark für anwendbar erklärt.28 Die Zuständigkeit für Beklagte aus sog. „Drittstaaten“29 richtet sich gemäß Art. 6 Abs. 1 EuGVVO mit Ausnahme der dort abschließend aufgezählten ausschließlichen Zuständigkeiten nach den Bestimmungen des nationalen Rechts. Wichtigste ausschließliche Zuständigkeit ist die Parteivereinbarung über die Zuständigkeit nach Art. 25 EuGVVO (Prorogation).
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Weitere Voraussetzung für die Anwendung der EuGVVO ist, dass das Verfahren einen Auslandsbezug aufweist.30 Reine Inlandssachverhalte, bei denen alle Parteien ihren Sitz in dem betreffenden Staat haben und der Rechtsstreit auch keinen sonstigen grenzüberschreitenden Anknüpfungspunkt besitzt, scheiden aus.31 Ein grenzüberschreitender Anknüpfungspunkt soll allerdings schon dann vorliegen, wenn eine nichtdeutsche Partei an dem Rechtsstreit beteiligt ist. Auch sonst wird diese Anwendungsvoraussetzung wenig restriktiv gehandhabt.32 Infolge der wirtschaftlichen