b) Allgemeiner Gerichtsstand
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Eine Klage kann gemäß Art. 4 Abs. 1 EuGVVO stets am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten („Heimatgericht“) erhoben werden. Zugleich hat eine Klage am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten den Vorteil für den Kläger, dass er dort unzweifelhaft seinen Gesamtschaden einklagen kann.35
aa) Maßstabbildung
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Art. 4 Abs. 1 EuGVVO liegen dieselben Erwägungen zugrunde, die auch im deutschen Zivilverfahren zur allgemeinen Zuständigkeit des Gerichts am Sitz des Beklagten führen (§§ 12, 17 ZPO). Derjenige, der als Kläger den rechtlichen status quo ändern möchte, muss sich hierfür zum Beklagten begeben (actor sequitor forum rei). Dem Vorteil des Klägers, der nicht nur das Ob, sondern auch den Zeitpunkt und die Art des Klageangriffs bestimmt, entspricht die Vergünstigung des Beklagten, sich an seinem Heimatgerichtsstand zu verteidigen (favor defensionis).36
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Diese Wertentscheidung kann auf europäischer Ebene zusätzliche Relevanz erlangen. Hier geht es nicht mehr nur um den geografischen Vorteil des Heimatgerichts. Vielmehr gewährleistet der Grundsatz, dass der Beklagte sich vor einer ihm vertrauten Gerichtsbarkeit unter Geltung einer ihm bekannten Verfahrensordnung (lex fori) in einer ihm bekannten Sprache verteidigen kann. Kein Beklagter soll ohne Weiteres in einen Prozess auf unbekanntem Terrain nach unbekannten prozessualen Regeln gezogen werden. Auch vor diesem Hintergrund hat der EuGH die Bedeutung der Grundregel wiederholt hervorgehoben.37
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In kartellrechtlichen Schadensersatzfällen ist die Grundregel von der Klage am Heimatgericht durch eine Reihe von zusätzlichen besonderen Gerichtsständen (siehe sogleich) indes stark modifiziert. Dies erscheint auch richtig, denn bei Kartellfällen ist zu berücksichtigen, dass die Beklagten regelmäßig Unternehmen sind, die sich durchaus in vielen Rechtsordnungen versiert zu bewegen verstehen und die überdies durch das ihnen vorgeworfene – und zumeist behördlich festgestellte – grenzüberschreitende Verhalten erst Anlass zu der Klage geboten haben. Wer Andere im europäischen Ausland kartellrechtlich schädigt, muss damit rechnen, von jenen dort verklagt zu werden. Nur so wird der Effizienz kartellrechtlicher Schadensersatzklagen genüge getan, weil andernfalls die durch ein Kartell mutmaßlich Geschädigten gezwungen wären, in einer anderen als der ihnen vertrauten Jurisdiktion Klage zu erheben.
bb) Prozessuale Anforderungen
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Der allgemeine Gerichtsstand juristischer Personen – gegen die kartellrechtliche Schadensersatzklagen im Regelfall erhoben werden – wird durch Art. 63 Abs. 1 EuGVVO bestimmt. Demnach kann die Klage bei der sachlich und funktional zuständigen Gerichtsbarkeit des
a) satzungsmäßigen Sitzes,
b) des effektiven Hauptverwaltungssitzes oder
c) der Hauptniederlassung einer juristischen Person erhoben werden.
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Durch die autonome Bestimmung des Sitzes einer juristischen Person werden Konflikte über die Zuständigkeit vermieden.38 Der Kläger kann zwischen den drei genannten Gerichtsständen wählen.
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Der Wohnsitz einer natürlichen Person kann für einen Regressprozess gegen die für eine Kartellrechtsverletzung verantwortlichen Angestellten eines Unternehmens eine praktische Rolle spielen39 oder aber wenn eine verantwortliche natürliche Person direkt in Anspruch genommen wird. Seine Bestimmung richtet sich gemäß Art. 62 Abs. 1 EuGVVO nach der lex fori. Keine Rolle spielen demnach die Staatsangehörigkeit des Beklagten oder sein gewöhnlicher Aufenthalt.40 Die nach deutscher Rechtslage einschlägigen Regelungen sind in §§ 7ff. BGB zu finden.
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Am allgemeinen Gerichtsstand kann nur dann geklagt werden, wenn der Beklagte tatsächlich über einen zuständigkeitsbegründenden (Wohn-)Sitz im Sinne der Art. 62, 63 EuGVVO verfügt. Es handelt sich dabei um keine sog. „doppelrelevante Tatsache“, deren Vorliegen der Kläger lediglich schlüssig behaupten muss; vielmehr muss das Gericht das Bestehen eines (Wohn-)Sitzes positiv feststellen.41 Der Kläger trägt hierfür die Darlegungs- und Beweislast. Allerdings hat der EuGH das Fehlen von „beweiskräftigen Indizien“ für einen (Wohn-)Sitz des Beklagten außerhalb des Unionsgebiets genügen lassen.42
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Maßgeblich für die Beurteilung der Zuständigkeit ist der Zeitpunkt der Anhängigkeit der Klage; eine später erfolgte Veränderung des Wohnsitzes hat keinen Einfluss auf die Zulässigkeit einer einmal wirksam erhobenen Klage (perpetuatio fori).43 Umgekehrt ist ein im Moment der Klageerhebung unzulässiges Verfahren fortzusetzen, wenn ein Kläger noch vor Schluss der letzten mündlichen Verhandlung durch Wohnsitznahme die Jurisdiktion begründet.44 Hat ein (natürlicher) Beklagter nach der jeweiligen lex fori Wohnsitze in unterschiedlichen Jurisdiktionen, hat der Kläger ein Wahlrecht.45
c) Besondere Gerichtsstände
aa) Maßstabbildung
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Gemäß Art. 5 Abs. 1 EuGVVO kann von dem Grundsatz, dass eine Klage am Beklagtenwohnsitz zu erheben ist, in den von der EuGVVO abschließend geregelten Fällen abgewichen werden. Daraus wird teilweise gefolgert, dass die besonderen Gerichtsstände restriktiv auszulegen seien.46 Auch der EuGH hat wiederholt hervorgehoben,47 dass es sich bei den besonderen Gerichtsständen der EuGVVO um Ausnahmevorschriften handele, die eng auszulegen seien, um den Grundsatz der Klage am Beklagtenwohnsitz nicht auszuhöhlen, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit für den Beklagten zu gewährleisten und um einer Häufung der Gerichtsstände zu begegnen.
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In Kartellschadensersatzfällen – zumindest bei Follow-on-Klagen – hat der EuGH indes eine andere Lesart bevorzugt und besondere Gerichtsstände neben dem allgemeinen Gerichtsstand großzügig zugelassen. Insbesondere die Entscheidung Hydrogen Peroxide SA (CDC)48 eröffnet wichtige weitere Zuständigkeiten. Mit den Entscheidungen flyLAL und Tibor-Trans präzisierte der EuGH seine Rechtsprechung und rückte den Gedanken der Vorhersehbarkeit stärker in den Fokus.
bb) Prozessuale Anforderungen – Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen
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Es obliegt dem Kläger, der sich auf die Eröffnung eines bestimmten Gerichtsstandes berufen möchte, die hierfür maßgeblichen tatsächlichen Umstände darzulegen und zu beweisen. Das vom Kläger zu erfüllende Beweismaß richtet sich grundsätzlich nach nationalem Verfahrensrecht.49 Dabei kann ihm die im deutschen Prozessrecht vorherrschende „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ zugutekommen. Doppelrelevant sind nach ständiger Rechtsprechung solche Tatsachen, die sowohl die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts begründen als auch notwendige Tatbestandsmerkmale des erhobenen Anspruchs sind.50 Für diese Tatsachen reicht zur Begründung der Zuständigkeit ein schlüssiger Vortrag aus – eine Beweiserhebung findet nicht statt, die vorgetragenen Tatsachen werden als wahr unterstellt.51 Ihr tatsächliches Vorliegen wird – bei Bestreiten – dann erst auf Ebene der Begründetheit festgestellt. Der EuGH hat ausdrücklich anerkannt, dass nationale Gerichte