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Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass spanische Gerichte unter Zugrundelegung der CDC- und Tibor Trans-Entscheidungen gemäß Art. 7 Nr. 2 EuGVVO international zuständig sind. Der Erfolgsort liege in Spanien, da das Lkw-Kartell (auch) den spanischen Markt beeinträchtigt und der Kläger dort seinen Schaden erlitten habe. Das Gericht hat jedoch Zweifel an der Reichweite von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Regelt Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ausschließlich die internationale Zuständigkeit oder handelt es sich um eine doppelte bzw. gemischte Vorschrift, die sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit festlegt, ohne dass auf nationale Prozessvorschriften zurückgegriffen werden muss?
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Sollte Art. 7 Nr. 2 EuGVVO nur die internationale Zuständigkeit regeln, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach nationalem Prozessrecht. Nach spanischem Recht ist auf kartellrechtliche Schadensersatzklagen die besondere Zuständigkeitsregel für Klagen wegen unlauteren Wettbewerbs in Art. 52 Abs. 1 Nr. 12 der spanischen Zivilprozessordnung (Ley de Enjuiciamiento Civil, LEC) entsprechend anwendbar. Danach ist das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem die Wirkungen der unerlaubten Handlung eintreten. Das wäre in Córdoba, da der Kläger dort die fünf streitgegenständlichen Lkw gekauft bzw. geleast hatte. Da die Beklagten jedoch zu keinem Zeitpunkt die örtliche Zuständigkeit des Gerichts in Madrid gerügt hatten, ging das vorlegende Gericht von einer stillschweigenden Zuständigkeitsbegründung (Prorogation) nach Art. 56 LEC aus.175
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Sieht man Art. 7 Nr. 2 EuGVVO hingegen als gemischte Vorschrift an, die sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit regelt, wäre das Gericht am Sitz des Geschädigten (Erfolgsort) zuständig, somit in Córdoba und nicht in Madrid. Das vorlegende Gericht verweist dabei auf die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung des Erfüllungsortes bei vertraglicher Haftung in Art. 7 Nr. 1 lit. b EuGVVO.176 Diese Vorschrift soll sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit regeln und „den Gerichtsstand unmittelbar und ohne Verweis auf die innerstaatlichen Regeln der Mitgliedstaaten“ bestimmen.177
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Das spanische Gericht hat den EuGH indes nicht gefragt, ob die Tochtergesellschaft, die nicht Adressatin der Bußgeldentscheidung ist und ihren Sitz in Madrid hat, als Ankerbeklagte im Sinne von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO dienen kann. Auch auf diese Weise hätte das Gericht in Madrid seine Zuständigkeit für die Klage gegen alle Beklagten begründen können. Geht der EuGH nicht über die Vorlagefrage hinaus oder deutet sie entsprechend um, wird er die in der CDC-Entscheidung offengelassene Frage, ob der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs auf konzernrechtlich verbundene Nichtadressaten der Kommissionsentscheidung Anwendung findet, nicht beantworten.178
f) Besonderer Gerichtsstand des Erfüllungsortes?
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Für vertragliche Ansprüche besteht gem. Art. 7 Abs. 1 EuGVVO ein besonderer Gerichtsstand am Erfüllungsort der Verpflichtung. Der Erfüllungsort für die jeweilige einzelne Vertragspflicht ist dabei grundsätzlich nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht zu bestimmen.179 Für Kauf- und Werkverträge sowie für die Erbringung von Dienstleistungen wird der Erfüllungsort indes in Art. 7 Abs. 1 lit. b EuGVVO speziell definiert. Dieser Gerichtsstand erfasst alle Ansprüche, die aus einer freiwillig eingegangenen Verpflichtung resultieren.180 Schadensersatzansprüche aufgrund eines Kartellverstoßes sind jedoch deliktischer Natur.181
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Mit der Abgrenzung zwischen Delikts- und Vertragsgerichtsstand muss sich gegenwärtig der EuGH auf einen Vorlagebeschluss des BGH in der Rechtssache Booking.com befassen.182 Eine deutsche Hotelbetreiberin hatte Booking.com vor einem deutschen Gericht auf Unterlassung nach § 33 Abs. 1 GWB verklagt, weil sie bestimmte Vertragsbedingungen des zwischen den Parteien geschlossenen sog. Hotelvertrages als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ansah. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit folge aus dem deliktischen Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Das OLG Schleswig trat dem entgegen und urteilte, dass kartellrechtliche Unterlassungsansprüche wegen Missbrauches einer marktbeherrschenden Stellung nicht deliktischer Natur i.S.v. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO seien, wenn sie ihren Ausgangspunkt in dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag haben.183 Der BGH neigt zu einer anderen Sichtweise und möchte den kartellrechtlichen Unterlassungsanspruch auch dann deliktisch qualifizieren, wenn das beanstandete Verhalten durch die vertraglichen Bestimmungen gedeckt ist, da es auf Basis des klägerischen Vortrags an der Freiwilligkeit fehle, die prägend für eine privatautonome Vereinbarung sei.184 Damit wären die Gerichte am (möglichen) deliktischen Erfolgsort in Deutschland zuständig.185 Allerdings stellt der BGH auch klar, dass die Abgrenzung vertraglicher und deliktischer Ansprüche im Sinne des Art. 7 Nr. 1/Nr. 2 EuGVVO autonom auszulegen ist, weswegen er dem EuGH die folgende Frage vorlegte:
„Ist Art. 7 Nr. 2 der [EuGVVO] dahin auszulegen, dass der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung für eine auf Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen gerichtete Klage eröffnet ist, wenn in Betracht kommt, dass das beanstandete Verhalten durch vertragliche Regelungen gedeckt ist, der Kläger aber geltend macht, dass diese Regelungen auf der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung des Beklagten beruhen?“
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Das Verfahren wird am EuGH unter dem Aktenzeichen C-59/19 geführt, die mündliche Verhandlung fand am 27.1.2020 statt. Ein Termin zur Verkündung der Entscheidung ist noch nicht anberaumt.
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Das Verfahren ist vor dem Hintergrund der Brogsitter-Rechtsprechung des EuGH zu sehen. In Brogsitter hatte der EuGH entschieden, dass selbst Ansprüche, die nach nationalem Recht als außervertraglich – etwa deliktisch (im konkreten Fall ging es um § 823 Abs. 2 BGB) – ausgestaltet sind, dennoch (nur) dem Vertragsgerichtsstand in Art. 7 Nr. 1 EuGVVO unterfallen, wenn das anspruchsbegründende Verhalten als Verstoß gegen vertragliche Verpflichtungen im Sinne der EuGVVO angesehen werden kann. In Brogsitter postulierte der EuGH, dass dies v.a. dann der Fall ist, wenn eine Auslegung des Vertrags zur Feststellung der Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens „unerlässlich erscheint“.186 Wann eine Auslegung des Vertrages „unerlässlich erscheint“, ist Gegenstand eines breiten Meinungsstreits mit einer Vielzahl an Vorschlägen und dürfte durch den EuGH in der Sache Booking geklärt werden. Dabei wird inzident die Frage zu beantworten sein, ob tatsächlich ein Vorrang des vertraglichen Gerichtsstands nach Art. 7 Nr. 1 EuGVVO vor dem deliktischen Gerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO besteht.
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Nach bislang überwiegender Auffassung können deliktische Ansprüche nicht gemeinsam mit vertraglichen Ansprüchen am Gerichtsstand des Erfüllungsortes eingeklagt werden.187 Ein kartelldeliktischer Anspruch kann damit nicht zusammen mit einem Anspruch wegen Vertragsverletzung am Erfüllungsort geltend gemacht werden. Dennoch kann der Gerichtsstand des Erfüllungsortes in zivilgerichtlichen Streitigkeiten mit kartellrechtlichem Hintergrund eine Rolle spielen, insbesondere, wenn es um die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung eines aufgrund eines Verstoßes gegen ein Kartellverbot unwirksamen Vertrages (Art. 101 Abs. 2 AEUV) geht.188
g) Parteivereinbarungen über die Zuständigkeit
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Vor allem in Vertragsbeziehungen mit internationalem Bezug ist der Abschluss von Gerichtsstands- und Schiedsklauseln üblich. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen kartellrechtliche Schadensersatzansprüche von Gerichtsstands- und Schiedsklauseln erfasst sind, ist deshalb von erheblicher praktischer Bedeutung.
aa) Gerichtsstandsklauseln
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