Klarzustellen ist, dass das Fehlen grundgesetzlicher Schutzgüter, aus denen eine konkrete Schutzpflicht abgeleitet werden könnte, nicht bedeutet, dass die Grundrechtsträger verfassungsrechtlich völlig schutzlos wären. Zu recht wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass Finanzkrisen ohne staatliches Eingreifen in Extremfällen zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führen können.796 Der deutsche Staat bleibt selbst mit Blick auf solche Fälle zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet.797 Hierbei ist ihm jedoch erneut ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Da das Grundgesetz den Staat auf kein bestimmtes Wirtschaftssystem festlegt, steht es ihm also auch frei, ob er Vorsorgemaßnahmen zum Schutz des Finanzsystems trifft oder ob dieses in einer Krise verstaatlicht und sich auf direkte Leistungen an etwaige Hilfsbedürftige beschränkt.798
c) Abweichungen aufgrund der Selbstregulierung im Finanzbereich?
Schließlich ist angesprochen worden, dass einzelne Stimmen im Schrifttum eine verfassungsrechtliche Präferenz für selbstregulative Beiträge annehmen. Dies erscheint im vorliegenden Kontext relevant, da selbstregulative Maßnahmen (Verbandstätigkeit, Modellverträge) auf den Finanzmärkten eine bedeutende Rolle spielen. Die EU und der deutsche Staat dürften berechtigt sein, auf die Ausübung ihrer Kompetenzen zur Gefahrenvorsorge und -abwehr zu verzichten, wo Selbstregulierung dafür sorgen kann, dass Gefahren vorgebeugt wird.799 Die EU unterliegt nach dem zuvor Ausgeführten keinen Schutzpflichten, die ein Tätigwerden erzwingen würden. Der deutsche Staat würde nur von den ihm zukommenden Handlungsspielräumen Gebrauch machen, wenn er sich anstelle eigener Regelungen auf die Selbstregulierung stützt. Allerdings können selbstregulative Maßnahmen Gefahren auch erhöhen, etwa wenn dadurch Risiken auf Dritte verlagert werden. Das könnte es rechtfertigen, dem Staat gegenüber etwaigen benachteiligten Dritten eine erhöhte Verantwortung zuzuweisen. Dieser Frage soll an geeigneter Stelle weiter nachgegangen werden.800
697 Siehe oben Kap. 2.A (S. 9). 698 Siehe oben Kap. 4.C.I.2 (S. 185) und als konkretes Beispiel auch Art. 25 Abs. 2 RL 2014/65/EU sowie die Umsetzung in § 64 Abs. 3 Nr. 3 WpHG. 699 Siehe hierzu näher Kap. 5, insb. Kap. 5.B (S. 274ff.). 700 Dazu siehe auf der europäischen Ebene EU-Kommission, Mitteilung – Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM 2000/1 endg.; aus dem deutschen Schrifttum z.B. Kahl in: von Bogdandy/Cassese/Huber, Handbuch ius publicum Europaeum, Band V, 1. Aufl. 2014, § 74 Rz. 19; Denninger in: Lisken/Denninger (Fn. 690), Abschn. D 41; speziell für das deutsche Gewerbeordnungsrecht: Wormit in: Pielow (Fn. 6), § 139b GewO Rz. 6; ferner Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 1. Aufl. 2005, S. 45ff.; Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 1. Aufl. 2009, S. 55; Grüner, Planerischer Störfallschutz, 1. Aufl. 2010, S. 37f.; Kohler in: von Staudinger (Fn. 60) (Neubearbeitung 2017), § 36a GenTG Rz. 5 (unter Verweis auf § 1 Nr. 1 GenTG). Siehe aus der Rechtsprechung auch EuGH, Urteil vom 11. Juli 2013, C-601/11 P Frankreich/Kommission (zur Krankheitsvorsorge); BVerfG, Kammerbeschluss vom 2. Dezember 1999, 1 BvR 1580/91 (zu Umweltaltlasten); VGH BW, Urteil vom 30. November 2011, 3 S 895/10 (zu baurechtlichen Mindestabstandsgeboten). 701 Vgl. Wollenschläger (Fn. 700), S. 59f. 702 Beispielhaft: § 52a Abs. 2, 3 BImSchG; § 22 Abs. 3c AMG; § 22a Abs. 2 DepV; § 9 Abs. 2 IZÜV; zum Atomrecht § 7d AtG; zum Chemikalienrecht §§ 5 Abs. 2 Nr. 5, 12e Abs. 2 Nr. 1 ChemG; § 16d Abs. 2 Nr. 3 SprengG; § 2 Abs. 1 Nr. 12 BfRG; zum Gentechnikrecht §§ 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 GenTG und schon oben Fn. 706. 703 Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, VVDStRL 63 (2003), 214 (219ff., 259). Vgl. insofern die ökonomische Unterscheidung zwischen Fehlern erster und zweiter Ordnung; dazu z.B. Adams, Risk, 1. Aufl. 1995, S. 58; Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, 1. Aufl. 2010, S. 11, 222; McNutt, Political Economy of Law, 1. Aufl. 2010, S. 207; Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie, 2. Aufl. 2011, S. 458, 461f.; Bueren, Verständigungen – Settlements in Kartellbußgeldverfahren, 1. Aufl. 2011, S. 148 mit Fn. 659 m. Nachw.; siehe auch Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, 6. Aufl. 2005, S. 419f.; Jain, Law and Economics, 1. Aufl. 2010, S. 261ff. 704 Vgl. Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), 113 (136ff.); Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, VVDStRL 63 (2003), 214 (220f.) m. Nachw. Siehe auch Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, VVDStRL 63 (2003), 264 (283f.) mit der Forderung, „[o]bjektive Schadensmöglichkeiten [...] auf[zu]klär[en], bevor Subjekten Schadenswahrscheinlichkeiten zugemutet werden.“ Siehe ferner Kahl in: von Bogdandy/Cassese/Huber (Fn. 700), § 74 Rz. 19 (Vorsorgeprinzip als Instrument des Präventionsstaats „im Zeitalter von Gewissheitsverlusten“); ders., DVBl 2003, 1105 (1107f.); Wißmann, Generalklauseln – Verwaltungsbefugnisse zwischen Gesetzmäßigkeit und offenen Normen, 1. Aufl. 2008 (Risikoverwaltungsrecht dient dem Umgang mit der prinzipiellen Ungewissheit zukünftiger Sachverhalte); Grüner (Fn. 700), S. 37f. (Gefahrenvorsorge als „Sicherheitszone“ vor Überschreitung der Gefahrenschwelle); auch: Appel (Fn. 700), S. 47 (Sicherung des Wissens bei wachsender Ungewissheit). 705 Vgl. Kahl, DVBl 2003, 1105 (1105, 1109) („Chancen und Risiken“; Innovationen „stimulieren“ und „kontrollieren“); ferner Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, VVDStRL 63 (2003), 214 (219): „Das Risiko erster Ordnung bezeichnet den Erwartungswert eines Schadens, [errechnet] als Produkt von Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit [. Dies] macht die nachteiligen Folgen ökonomischer Entscheidungen mit ihrem erwarteten Nutzen vergleichbar.“ 706 Vgl. Ronellenfitsch, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, Diskussionsteil, VVDStRL 63 (2003), S. 316 (324) (nach dem „sich das Gentechnikgesetz nur sinnvoll interpretieren lässt, wenn man den Begriff ‘Gefahr’ statt ‘Risiko’ setzt“); kritisch auch Pitschas, ebenda (327). 707 Luhmann, Soziologie des Risikos, 1. Aufl. 1991, S. 30f.; ihm folgend Wollenschläger (Fn. 700), S. 56. 708 Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik, 1. Aufl. 2010, S. 148ff. 709 Siehe z.B. Kloepfer (Fn. 579), § 4 Rz. 34f.; ders., Handbuch des Katastrophenrechts, 1. Aufl. 2015, § 6 Rz. 2; Schmidt/Kahl/Gärditz, Umweltrecht, 10. Aufl. 2017, § 3 Rz. 22. Vgl. auch § 5 Abs. 1 Nr. 1–3 BIMSchG, wo allerdings der Risikobegriff selbst nicht verwendet wird. 710 Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?,