Die deutschen Grundrechte (Art. 1–19 GG) können sich als negative Kompetenznormen und als objektive Wertentscheidungen auf die Gesetzgebung auswirken und sind in diesem Sinne bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu beachten.748 Wenn anderenfalls das Mindestmaß des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes unterschritten wird (Untermaßverbot!), können aus den Grundrechten Schutzgewähransprüche abgeleitet werden.749 Ob ein solcher Schutzgewähranspruch besteht, hängt zum einen vom Wert des betroffenen Rechtsguts und dem Grad der Gefahr ab, dem das Rechtsgut ausgesetzt ist. Zum anderen ist auch der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu beachten, über den der Gesetzgebers bei Maßnahmen zur gleichzeitigen Verwirklichung von untereinander abzuwägenden Verfassungsanforderungen verfügt.750 Das Bundesverfassungsgericht hat demzufolge zwar eine Schutzpflicht des Staates anerkannt, die etwa eine Risikovorsorge gegen Lebens- und Gesundheitsgefährdungen umfasst.751 Zugleich hat es allerdings klargestellt, dass der Spielraum des nationalen Gesetzgebers eine gerichtliche Überprüfung derartiger Schutzpflichten aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips nur in Bezug auf evidente Verletzungen zulässt.752 Davon abgesehen ist nach der Rechtsprechung bisher offengeblieben, in welchem Umfang die Gefahrenvorsorge zum Schutz anderer Rechtsgüter als Leben und Gesundheit auf grundrechtliche Schutzgewährpflichten zurückgeführt werden kann. Dasselbe gilt übrigens für die ebenfalls denkbare Ableitung von Schutzpflichten zugunsten einzelner Berechtigter aus objektiven Verfassungsprinzipien (z.B. aus dem Sozialstaatsprinzip).753
Als zusätzliche Schranke für verfassungsrechtlich hergeleitete Gefahrenvorsorgepflichten nehmen einzelne Stimmen des Schrifttums schließlich an, dass aus den Freiheitsgrundrechten eine verfassungsrechtliche Präferenz für die Aktivierung selbstregulativer Beiträge folge.754 Wenn man dies akzeptiert, so dürfte eine Grenze dort zu ziehen sein, wo der Schutz der Selbstregulierung mit anderen höchstrangigen Rechtsgütern kollidiert. Darauf ist am Ende des nachfolgenden Unterabschnitts näher einzugehen.
2. Abweichende Beurteilung im Finanzaufsichtsrecht?
Im Finanzaufsichtsrecht erscheinen die höchstrangigen Vorgaben zumindest hinsichtlich des Schutzziels der Gefahrenvorsorge relativ eindeutig. Die finanzaufsichtsrechtliche Gefahrenvorsorge hat insoweit hauptsächlich im objektiven Interesse der EU am Binnenmarkt zu erfolgen, wobei Vorschriften zur Umsetzung der Vorgaben der EU-Verträge (Verordnungen, Richtlinien, aber auch soft law wie z.B. Technische Standards) diesen Schutz im objektiven Interesse detailliert ausformen. Demgegenüber erscheinen subjektiv-grundrechtliche Aspekte eher nachrangig. Das schließt nicht aus, dass sich aus den EU-Verträgen oder dem Grundgesetz gewisse Schutzpflichten für die EU und ihre Mitgliedstaaten ergeben können. Die Entscheidung hat freilich wichtige Haftungsimplikationen. Denn wenn es derartige Pflichten gäbe, dann hätten die EU und die Mitgliedstaaten diese Pflichten möglicherweise durch ihr früheres Nichthandeln hinsichtlich der Finanzinstrumente, die zur Finanzkrise 2008–2012 beigetragen haben, verletzt.
Das rechtswissenschaftliche Schrifttum tendiert dennoch ganz überwiegend zur Bejahung mehr oder weniger konkreter Schutzpflichten.755 Deshalb soll die Problematik nachfolgend genauer untersucht werden. Dabei sind die grundsätzlichen Mindestanforderungen des EU-Rechts an die Gefahrenvorsorge (Abschn. a)), die Mindestanforderungen des deutschen Rechts (Abschn. b)) und mögliche Abweichungen aufgrund der Selbstregulierung im Finanzbereich (Abschn. c)) getrennt zu betrachten.
a) EU-Recht: Keine Übertragung deutscher Grundsätze zu Schutzpflichten und zum Untermaßverbot
Es wurde bereits zuvor darauf hingewiesen, dass die Schutzgüter der Finanzmarktaufsicht zwar kein ausdrücklicher Gegenstand des Primärrechts sind, dass sich der durch die EU-Verträge geschützte Binnenmarkt aber ohne Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems nicht erhalten bzw. weiter entwickeln lässt. Die Errichtung eines europäischen Binnenmarktes ist ihrerseits ein sowohl für die EU-Institutionen als auch für die Mitgliedstaaten durch die EU-Verträge höchstrangig festgelegter Auftrag.756 Daraus lässt sich jedenfalls ableiten, dass Maßnahmen der Gefahrenvorsorge, welche die EU und ihre Mitgliedstaaten im Finanzbereich ergreifen, auf die Bekämpfung schwerwiegender Störungen der europäischen Finanzsysteme ausgerichtet sein müssen. Die Frage, ob weitergehend sogar eine Pflicht der EU oder der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung systemischer Gefahren besteht, ist dennoch als offen anzusehen, da eine solche Pflicht in der europäischen Rechtsprechung bisher nicht ausdrücklich anerkannt wurde und ihre Anerkennung in Anbetracht der den Mitgliedstaaten verbliebenen ordnungsrechtlichen Kompetenzen auch nicht selbstverständlich unterstellt werden kann.757 Insoweit sind auch die Grenzen des EU-Rechts aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art. 5 Abs. 2, 3 EUV) zu beachten.758
Diese Erwägungen sprechen auch dagegen, die deutschen Grundsätze zu Schutzpflichten und Schutzgewähransprüchen zu übertragen. Zwar erscheint es auf der Basis dieser Grundsätze nicht ausgeschlossen, aus den Vorschriften zum Schutz des EU-Binnenmarktes und den wirtschaftsbezogenen Unionsgrundrechten objektive Handlungspflichten oder gar subjektive Ansprüche abzuleiten.759 Das Unionsrecht gestattet es den EU-Organen allerdings nicht, zum Schutz des Binnenmarkts tätig zu werden, wenn ihnen die nötigen Kompetenzen nicht zuvor ausdrücklich übertragen worden sind und wenn zugleich mitgliedsstaatliche Kompetenzen fortbestehen.760 Dies ist wegen der möglichen parallelen Anwendbarkeit nationaler Schutzstandards neben den Unionsgrundrechten der Fall.
b) Deutsches Recht: Gefahrenvorsorge kein Gegenstand von Schutzpflichten bzw. -ansprüchen
Das Unionsrecht belässt einen Freiraum für nationale Schutzstandards, sofern dadurch der Vorrang, die Einheit oder die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden. Das kann etwa in solchen Fällen relevant werden, in denen nach dem Finanzaufsichtsrecht der EU Schutzlücken verbleiben und der nationale Gesetzgeber Anlass sieht, diese Schutzlücken durch eigene Vorgaben zur Gefahrenvorsorge ergänzen. Aus deutscher Perspektive stellt sich unter diesen Umständen die Frage, ob sich aus den nationalen Grundrechten konkrete subjektive Schutzgewähransprüche gegenüber dem deutschen Staat herleiten lassen. Die Finanzmarktteilnehmer sind in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit geschützt (Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG).761 Anleger und Sparer können sich zudem auf den grundrechtlichen Schutz des Eigentums berufen (Art. 14 Abs. 1 GG). Daneben lässt sich erwägen, ob das Sozialstaatsprinzip im Sinne einer objektiven Schutzpflicht den Schutz wirtschaftlicher Freiheiten verlangt, die in einer Krise gefährdet werden können (Art. 20 Abs. 1 GG).762
Die Gefahrenvorsorge im Finanzbereich dürfte bei Lichte betrachtet allerdings kein Gegenstand von Schutzpflichten oder -ansprüchen sein. Hiergegen sprechen zum einen der Anwendungsvorrang des EU-Rechts als Grenze (Abschn. aa)) und zum anderen das Fehlen hinreichend konkreter grundgesetzlicher Schutzgüter (Abschn. bb)).
aa) Anwendungsvorrang des EU-Rechts als Grenze
Das Grundgesetz ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts europarechtsfreundlich auszulegen.763 Deshalb findet grundsätzlich keine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Unionsrechtsakten statt. Eine Ausnahme kommt nur zum Schutz grundlegender Verfassungsprinzipien in Betracht.764 Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich ansonsten darauf, innerhalb des vom Unionsrecht gesetzten Rahmens zu überprüfen, ob der deutsche Gesetzgeber die ihm verbleibenden Spielräume in verfassungskonformer Weise nutzt.765 Die Grenzen dieser Spielräume werden aus unionsrechtlicher Perspektive durch den Anwendungsvorrang des EU-Rechts bestimmt.766