Die Differenzierung nach den verfolgten Zielen ist gerade im Bereich der finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge wichtig. Denn je weiter die dazu getroffenen Maßnahmen vorverlagert werden, um so offener ist von vornherein die Entwicklung, die letztlich zu einer Gefahrenlage führen kann. Maßnahmen zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen bestimmter Grundrechtsträger können sich dann umso belastender für andere Marktteilnehmer auswirken, welche die mit den Maßnahmen einhergehenden Kosten oder andere Nachteile zu tragen haben. Ein plastisches Beispiel für dieses Problem sind umfangreiche Informations- und Beratungspflichten, die Sparern und Anlegern einerseits eine informiertere Entscheidung ermöglichen, andererseits trotz eines gegebenenfalls nur geringen Beitrags zur Gefahrenvorsorge mit einem ganz erheblichen Aufwand für die mit diesen Pflichten belasteten Banken einhergehen.773 Das EU-Recht dürfte vor diesem Hintergrund Maßnahmen des nationalen Gesetzgebers zur Gefahrenvorsorge zwar nicht in jedem Fall entgegenstehen. Ansprüche von Grundrechtsträgern, die auf den einseitigen Schutz individueller wirtschaftlicher Interessen gerichtet sind, dürften aber durch die Vorgaben der EU-Verträge zum Binnenmarkt überlagert werden.
Das Schrifttum, das etwaige verfassungsrechtliche Schutzgewährpflichten in Betracht zieht, lässt üblicherweise offen, ob solche Pflichten allgemein oder nur in den Fällen bestehen sollen, in denen das EU-Recht Schutzlücken aufweist, die vom nationalen Gesetzgeber ausgefüllt werden können.774 Das Schrifttum äußert sich üblicherweise auch nicht zu dem Problem, welche Grenzen das EU-Recht zieht, soweit Maßnahmen zur Ausfüllung von Schutzlücken mit unausgewogenen Belastungen für die nicht geschützten Marktteilnehmer einhergehen.775 Damit werden grundrechtliche Schutzgewähransprüche im Zweifel auch in Fällen bejaht oder Schutzpflichten aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet, in denen das EU-Recht dafür nach hiesiger Lesart keinen Raum lässt.
bb) Fehlen hinreichend konkreter grundgesetzlicher Schutzgüter
Der Schutz wirtschaftlicher Interessen ist im deutschen Verfassungsrecht wesentlich schwächer als im EU-Recht ausgestaltet. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Es überlässt es damit dem Gesetzgeber, sich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem und eine ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu entscheiden.776 Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ist zudem nur ein Teilaspekt anderer grundrechtlicher Schutzgüter. Diese Schutzgüter und auch die Eigentumsfreiheit von Anlegern und Sparern sind stark normgeprägt und folglich durch den Gesetzgeber auszugestalten.777 Die Eigentumsfreiheit unterliegt darüber hinaus einer Sozialbindung.778 Dem Gesetzgeber sind bei der Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit deshalb Spielräume zur Austarierung von privaten und öffentlichen Interessen zuzugestehen (einschl. des öffentlichen Interesses an einer von staatlichen Eingriffen freien Marktentwicklung).779 Bei derartigen Gestaltungsfreiheiten lässt sich allerdings ein fester verfassungsrechtlicher Regelungsgehalt, in Bezug auf den Schutzgewähransprüche bestehen könnten, kaum feststellen.780 Der Schutz ist vielmehr davon abhängig, dass der Gesetzgeber den Grundrechtsträgern überhaupt ein individuelles Recht zur eigenen Verfügung zuordnet.781 Wenn der Gesetzgeber nicht die Nutzung eines solchen Rechts als solche beschränkt, müssen die Grundrechtsträger auch nachteilige Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse hinnehmen, da der grundrechtlichen Schutz den wirtschaftlichen Erfolg und die Sicherung von Erwerbsmöglichkeiten nicht mitumfasst.782 Anders als im Fall der Vorschriften über den Binnenmarkt bezieht sich der Schutz also nicht auf die Marktverhältnisse. Auch das Sozialstaatsprinzip ist durch den Gesetzgeber zu konkretisieren. Der Gesetzgeber muss somit in den ihm vom EU-Recht belassenen Freiräumen dafür sorgen, sich die Kontrolle darüber zu erhalten, wie er den Inhalt der genannten Freiheiten und des Sozialstaatsprinzips bestimmt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er in Bezug auf die zu definierenden schutzwürdigen Interessen außerdem zu einer finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge verpflichtet wäre.783
Zwar wäre zu erwägen, einen Mindestschutzumfang aus dem Wesens- bzw. Kerngehalt der hier relevanten Grundrechte oder des Sozialstaatsprinzips abzuleiten. Als eine Barriere für den einfachen Gesetzgeber verbietet es Art. 19 Abs. 2 GG, ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt anzutasten. Die Vorschrift wird teilweise zur Begründung eines grundrechtlichen Untermaßverbots herangezogen.784 Eine engere Barriere sogar für den Verfassungsgeber stellen der Menschenwürdekern der Grundrechte und der Kerngehalt des Sozialstaatsprinzips dar, die nach Art. 79 Abs. 3 GG jeder Änderung entzogen sind.785 Im vorliegenden Kontext könnte es gerechtfertigt sein, diese Barrieren in den Blick zu nehmen, weil Finanzkrisen nicht nur große Vermögenswerte vernichten, sondern sich auch zu gravierenden Wirtschaftskrisen ausweiten können, in denen eine umfassende Entwertung bestehender Rechtspositionen droht (durch Massenarbeitslosigkeit, Inflation usw.). Angesichts dessen erscheint es vertretbar, den Gesetzgeber als verpflichtet anzusehen, eine wirtschaftliche Ordnung zu gewährleisten, in der verkehrsfähige Güter überhaupt noch bestehen können.786 Allerdings wäre ein solcher auf den Wesens- bzw. Kerngehalt beschränkter Schutz auf extrem schwere Finanz- und Wirtschaftskrisen auszurichten. Dabei wäre dem Gesetzgeber aber immer noch ein weiter Gestaltungsspielraum dahingehend einzuräumen, ob er Maßnahmen zum Schutz des bestehenden Finanz- und Wirtschaftssystems ergreift oder ob er sich – dann freilich auf EU-Ebene – für Veränderungen des Systems einsetzt, um extreme Krisen auf diesem Wege unwahrscheinlicher zu machen.787 Auch dann wäre eine Schutzpflicht – so sie denn überhaupt bestünde – jedenfalls nicht individuell durchsetzbar.
Etwas anderes könnte freilich dann zu gelten haben, wenn die ursprüngliche wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes aufgrund verfassungsimmanenter Schranken heute nicht mehr vorbehaltlos anerkannt werden kann. Hierfür könnte eine Gesamtschau der heute bestehenden wirtschaftsbezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes sprechen. So enthalten die Vorschriften über die bundeseigene Verwaltung Einzelbestimmungen, die den Betrieb bestimmter liberalisierter Netzinfrastrukturen (Eisenbahn, Telekommunikation) in privatrechtlicher Form garantieren.788 Daneben kommt Rundfunk- und Presseunternehmen ein besonders umfassender Schutz zugute, der sie etwa im Verhältnis zu Telemedienanbietern heraushebt.789 Allerdings ist zu bedenken, dass die jeweiligen Garantien sich auf bestimmte Wirtschaftsbereiche beziehen, in denen der Staat auch unter den Bedingungen einer privatwirtschaftlichen Leistungserbringung verpflichtet bleibt, eine Grundversorgung sicherzustellen.790 Dagegen enthält das Grundgesetz außer Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenzen und über die Geldpolitik keine näheren Bestimmungen zum Finanzbereich.791 Diesbezüglich bleibt es vielmehr – trotz der hohen Bedeutung des Bereichs für das deutsche Wirtschaftssystem – weiterhin gänzlich offen. Selbst dann, wenn die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes lediglich einen je nach Regelungsbereich durchbrochenen Grundsatz darstellen sollte, würde aus dieser Erkenntnis somit nichts für die Gefahrenvorsorge im Finanzbereich folgen.
Soweit das einschlägige Schrifttum dennoch konkrete Schutzpflichten zur finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge bejaht, wird argumentiert,