Dessen ungeachtet dürfte den Aufsichtsbehörden grundsätzlich ein sehr weiter Spielraum für etwaige Eingriffe einzuräumen sein. Denn auch in diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die gesetzlichen Eingriffsbefugnisse angesichts der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der relevanten Schutzgüter der Entstehung einer konkreten Gefahr bewusst weit vorgelagert sind und dass sich Gefahren nur schwer begrenzen lassen, wenn sie sich realisieren.
696 BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2002, 6 CN 4/01, Rz. 31f., 34; Urteil vom 18. Dezember 2002, 6 CN 3/01, Rz. 24, 27 (zit. nach Juris).
E. Abgrenzung zu anderen Bereichen der öffentlich-rechtlichen Gefahrenvorsorge
I. Einleitung
Das Prinzip der Gefahrenvorsorge baut zwar im Finanzaufsichtsrecht wie in anderen Bereichen des Ordnungsrechts auf dem Phänomen des „Risikos“ auf. Dennoch erscheint das rechtliche Verständnis von Risiken aus anderen ordnungsrechtlichen Bereichen nicht übertragbar.
Es wurde bereits dargelegt, dass diese Arbeit vom Gefahrenbegriff des allgemeinen Ordnungsrechts ausgeht und den Begriff des „Risikos“ verwendet, um wirtschaftliche Gegebenheiten zu bezeichnen, die unter Umständen zu Gefahren beitragen können. Risiken im wirtschaftlichen Sinn sind dabei, wie gesagt, durch die von Wahrscheinlichkeiten abhängige Aussicht geprägt, durch eine Transaktion mit einem Finanzinstrument einen wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen oder einen wirtschaftlichen Verlust zu erleiden.697 Zwar wird der Begriff des Risikos in der EU-Finanzmarktregulierung ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal verwendet und hat so auch Eingang ins deutsche Recht gefunden.698 In diesen Fällen wird auf das Risiko unter anderem Bezug genommen, um Risiken im wirtschaftlichen Sinne (z.B. in § 2 Abs. 8 [= Abs. 3 a.F.] Nr. 5 WpHG: „Übernahme von Finanzinstrumenten für eigenes Risiko“) oder – relativ unspezifisch – die Möglichkeit von Rechtsgutsverletzungen (z.B. in § 63 Abs. 2 S. 1 [= § 31 Abs. 1 Nr. 2 a.F.] WpHG: „Risiko der Beeinträchtigung von Kundeninteressen“) zu bezeichnen. Es dürfte aber zu weit gehen, aus der Formulierung der betreffenden Einzelvorschriften Aussagen zur Regelungssystematik des bestehenden Aufsichtsrechts ableiten zu wollen. Das bedeutet Folgendes:
• Zum einen können für das deutsche Aufsichtsrecht grundsätzlich die hergebrachten Prinzipien des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts weiter maßgebend bleiben.
• Zum anderen verlagern die besonderen Regelungen des Aufsichtsrechts die Eingriffsschwelle, soweit sie an die bloße Möglichkeit von Rechtsgutsverletzungen anknüpfen, in den Bereich der Gefahrenvorsorge und gestalten diese sowohl tatbestandlich als auch hinsichtlich der Rechtsfolgen weiter aus.699
In anderen Bereichen des Ordnungsrechts wird dem Risikobegriff jedenfalls im Schrifttum eine weitergehende rechtliche Bedeutung zugeschrieben. Diese rechtliche Bedeutung weicht nicht nur von dem hier zugrunde gelegten wirtschaftlichen Risikoverständnis ab (Abschn. II). Sie wird auch aus Vorgaben des höherrangigen Rechts hergeleitet, bei denen zweifelhaft ist, ob sie in vergleichbarer Weise für den Umgang mit Risiken im Finanzaufsichtsrecht gelten können (wo es ja eigene Vorgaben gibt) (Abschn. III).
II. Der Risikobegriff als Element eines „Risikosteuerungsrechts“?
1. Einführung
Ausgehend von der Beobachtung, dass die Eingriffsschwelle mittlerweile in vielen Bereichen des Ordnungsrechts vorverlagert ist, wird diskutiert, ob sich das Ordnungsrecht zunehmend von einem Gefahrenabwehrrecht zu einem so genannten Risikosteuerungsrecht entwickelt. Die Diskussion ist nicht nur semantischer Natur. Sie erscheint auch im aufsichtsrechtlichen Kontext relevant, zumindest soweit es um die Regulierung von Finanzinstrumenten mit einer neuartigen Risikostruktur geht.
Im Wesentlichen dürfte im einschlägigen Schrifttum Einigkeit bestehen, dass das Prinzip der Gefahrenvorsorge zumindest außerhalb der Finanzmärkte ein allgemeines Regelungsprinzip darstellt, mit dem ein Rechtsgüterschutz in Bereichen gewährleistet werden soll, die einer ordnungsrechtlichen Gefahr vorgelagert sind.700 Diese Gefahrenvorsorge ist von der Abwehr abstrakter Gefahren und auch von der Prüfung eines Gefahrenverdachts abzugrenzen. Bei einer abstrakten Gefahr besteht im Falle einer gedachten Mehrzahl konkret gefährlicher Sachverhalte die Unsicherheit, welcher Sachverhalt voraussichtlich eintreten wird. Beim Gefahrenverdacht bestehen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahr. Es ist nach den vorliegenden Informationen aber unsicher, wie die bestehende Situation zu deuten ist (Diagnoseproblem) oder welcher Geschehensablauf auf dieser Grundlage zu erwarten ist (Prognoseproblem), sodass sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadens noch nicht abschätzen lässt.701
Des Weiteren lässt sich festhalten, dass das Risiko als Merkmal eines ordnungsrechtlich zu beurteilenden Sachverhalts – abweichend vom wirtschaftlichen Verständnis – nicht neutral als Unsicherheitsfaktor, sondern vielmehr in einem engen Zusammenhang mit Schadenspotenzialen gesehen wird. Die gesetzlichen Formulierungen z.B. im Umweltrecht dürften einen solchen Sprachgebrauch auch nahelegen.702 Dabei sind ordnungsrechtlich nur solche Schadenspotenziale relevant, die bei ungehindertem Geschehensablauf ohne staatliches Einschreiten bestehen, nicht aber Schadenspotenziale aufgrund von staatlichen Fehlentscheidungen.703 Des Weiteren wird das Risiko, wenn auch in unterschiedlichen Formulierungen, als Unsicherheitsfaktor angesehen, der gerade deshalb rechtserheblich ist, weil er die Einschätzung eines möglichen Schadens erschwert.704 Dieser am Schaden orientierten Risikobetrachtung soll nicht entgegenstehen, dass Schadenspotenziale mit der Verfolgung eines davon abtrennbaren Nutzens verbunden sein können.705
Eine Gefahrenvorsorge zur Risikosteuerung im zuvor beschriebenen Sinne bedeutet, dass das Finanzaufsichtsrecht grundsätzlich nach ähnlichen Grundsätzen zu betrachten ist wie Regelungen zur Katastrophen- und Seuchenbekämpfung, der Terrorabwehr oder zum Umgang mit Cyberangriffen. Denn in allen derartigen Bereichen können Schadensereignisse zu immensen Schäden führen, die zugleich breit streuen. Die zuständigen Behörden verfügen auch nicht ohne Weiteres über die nötigen Informationen, um eine zutreffende Lagebewertung vorzunehmen. Außerdem kann der Eingriffszeitpunkt für Maßnahmen der Gefahrenabwehr so spät liegen, dass sich die Schäden tatsächlich nicht mehr abwenden lassen. Aus diesen Gründen wird die Eingriffsschwelle vom Gesetzgeber vorverlagert, um eine etwaige Schädigung der Rechtsgüter, deren Schutz die Vorsorge dienen soll, zu vermeiden.
Die Idee eines eigenständigen Risikosteuerungsrechts ist allerdings immer noch von großen Unsicherheiten geprägt. Auf Tatbestandsseite stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis das „Risiko“ als rechtliche Kategorie zur Gefahr steht (dazu nachfolgend Abschn. 2). Auf Rechtsfolgenseite stellt sich die Frage, was aus einer solchen rechtlichen Kategorie für den Umgang mit Risiken folgt (dazu Abschn. 3). Immerhin dürften Risiken rechtsdogmatisch bedeutsam sein, weil sie zu einer Verknüfung von Tatbestand und Rechtsfolge führen. Dies ist auch im vorliegenden Kontext relevant (Abschn. 4).
2. Tatbestandsseite: Risiko als eigenständige rechtliche Kategorie?
Sofern im Schrifttum rechtlich von „Risikosteuerung“ gesprochen wird, erscheint bereits das zugrunde gelegte Risikoverständnis unsicher. Dabei ist vor allem unklar, welche Merkmale das Risiko als rechtliche Kategorie auszeichnen und wie es sich von der Gefahr abgrenzen lässt.706 So ist zwar vorgeschlagen worden, den Risikobegriff zur Bezeichnung einer von einem potenziellen Störer bewusst in Kauf genommenen Sachlage zu verwenden, während der Gefahrbegriff diese Sachlage aus Sicht des davon Betroffenen beschreiben