Es ist streng genommen also nicht ganz richtig, wenn gesagt wird, mit Derivaten ließen sich Risiken im Sinne eines Nullsummengeschäfts verschieben. Denn dabei wird übergangen, dass der Vertrag, welcher der Transaktion zugrunde liegt, auch seinerseits für beide Transaktionspartner gegenläufige Risiken begründet; d.h. die Risiken, von denen die vertragliche Leistungspflicht abhängt.
2. Keine Risikoexternalisierung
Die Risiken, die Vertragsgegenstand eines Derivatkontrakts sind, werden bewusst vereinbart und somit nicht im vorgenannten Sinne externalisiert. Das schließt nicht aus, dass Risiken hinsichtlich sonstiger transaktionsbezogener Risiken im Wege der Negativauslese externalisiert werden (z.B. hinsichtlich des Umfangs der Gegenparteirisiken).255 Eine Negativauslese kommt ebenso bei komplexeren Finanzinstrumenten mit derivativen Elementen in Betracht. Davon abgesehen können sich auch bei Derivaten – in ihrer Grundform wie auch komplexeren Produkten – moralische Risiken entwickeln.
3. Einsatz von Hebelung und Risikoverkettung
Ein unter Umständen problematisches Element von Derivaten ist, dass es sich um Hebelgeschäfte handelt, durch die es zu einer Risikoverkettung kommen kann. Diese Risikoverkettung kann sich zum Nachteil dritter Marktteilnehmer auswirken.
Als Differenzgeschäfte mit Hebelwirkung gehen Derivatkontrakte zunächst mit geringen Kosten einher, weil eine Leistungspflicht erst zukünftig entsteht. Die Leistungspflicht kann aufgrund der Vereinbarungen im Kontrakt sogar vervielfacht werden (= mehrfache Hebelung). So können die Transaktionspartner z.B. in einem Forward-Kontrakt vereinbaren, dass eine Erhöhung der Rohstoffpreise zur Zahlung nicht lediglich des einfachen Ausgleichsbetrags führen soll, sondern des doppelten Betrags. Diese Möglichkeit, Gewinne unter Nutzung eines (evtl. vervielfachten) Hebels zu generieren, macht Derivate insbesondere für Marktteilnehmer mit spekulativen Interessen attraktiv (Nachfrageseite).256 Zugleich bedeutet das erst zukünftige Entstehen einer Leistungspflicht, dass sich Banken zu geringen Kosten als Gegenpartei zur Verfügung stellen können (Anbieterseite). Dazu muss ihnen nicht einmal eine konkrete Nachfrage nach solchen Instrumenten zu Absicherungszwecken bekannt sein. Sie können ihr Angebot sogar gezielt an Marktteilnehmer mit spekulativer Zielsetzung richten.257
Die mit Derivatkontrakten einhergehende Risikoverkettung kann gefährlich sein, weil sie erst zu dem Zeitpunkt offenkundig wird, in dem die vereinbarte Leistungspflicht entsteht. Ein Vergleich mit den schon zuvor dargestellten Fremdkapitalinstrumenten verdeutlicht, was gemeint ist. Bei derartigen Instrumenten kommt es dadurch zu einer Risikoverkettung, dass ein Marktteilnehmer Fremdkapital einsetzt, um es in Transaktionen mit einer Gewinnaussicht zu investieren. Die Risikoverkettung wirkt dann zulasten des Fremdkapitalgebers und besteht bis zur vollständigen Abwicklung der Transaktion. Derivate erlauben es ebenfalls, Gewinne anzustreben, ohne hierfür eigenes Kapital einzusetzen. In dieser Gewinnchance eines Transaktionspartners spiegelt sich das Gegenparteirisiko, das sich realisiert, wenn die Gegenpartei bei Entstehung der vereinbarten Leistungspflicht nicht zahlen oder liefern kann. Die Risikoverkettung über Derivate kann zu Nachteilen für Dritte führen, soweit das mit dem Derivatkontrakt verbundene Risiko für die Gegenparteien über das hinausgeht, was sie jeweils selbst wirtschaftlich tragen können.
4. Auswirkungen auf das Gesamtrisiko
Derivate haben Einfluss auf das Gesamtrisiko im Markt. Hierdurch kann sich das gesamtwirtschaftliche Risiko erhöhen oder vermindern, abhängig davon, zu welchem Zweck die Transaktionspartner den Derivatkontrakt jeweils abschließen und welche Risiken sonst im Markt vorhanden sind.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Derivate die Risiken von Marktteilnehmern reduzieren können, wenn sie zu Absicherungszwecken eingesetzt werden und daher gegenläufig zu einem Risiko strukturiert sind, dem ein Marktteilnehmer bereits ausgesetzt ist. Dagegen erhöhen Derivate, die zu Spekulationszwecken eingesetzt werden, das Risiko sowohl für den betreffenden Marktteilnehmer als auch für den gesamten Markt. Eine Ausnahme gilt lediglich, wenn die Spekulation auf Arbitrageziele gerichtet ist, weil die Transaktion dann zwar das persönliche Risiko des betreffenden Marktteilnehmer erhöht, das volkswirtschaftliche Gesamtrisiko aber vermindert. Davon abgesehen ist aber zu bedenken, dass es selbst bei Absicherungsgeschäften zu einer Erhöhung des Gesamtrisikos kommen kann, wenn ein von den Transaktionspartnern angenommener Absicherungsbedarf tatsächlich nicht besteht.258
Die Auswirkungen auf das volkswirtschaftliche Gesamtrisiko sind schwieriger einzuschätzen, wenn Banken als Finanzintermediäre die Rolle von Gegenparteien einnehmen. Die Banken tun dies, um Gegenparteirisiken, welche andernfalls von ihren Kunden zu tragen wären, als Dienstleister zu übernehmen. Darüber hinausgehend „suchen“ Banken auch für Kunden mit einem Absicherungsinteresse gezielt am Markt passende Gegengeschäfte.259 Wenn also beispielsweise ein Hersteller sich durch den Kauf eines Future-Kontrakts gegen Rohstoffsteigerungen absichern möchte, aber selbst keinen Verkäufer am Markt findet, kann seine Bank für ihn als Gegenpartei eintreten und dann ein eigenes Gegengeschäft abschließen, wenn sich ihr eine Gelegenheit dazu bietet. Auf diese Weise können Derivate dazu beitragen, die Effizienz der Finanzmärkte zu erhöhen und das Gesamtrisiko in den Märkten abzusenken. Allerdings erhöht das Zwischentreten einer Bank als vormals unbeteiligter dritter Partei auch die Möglichkeiten, dass es zu Fehlern kommt, etwa dadurch, dass Gegengeschäfte die abgesicherten Risiken nicht voll abdecken oder dass Risikokorrelationen unentdeckt bleiben.260
Eine Besonderheit weisen Derivate schließlich insofern auf, als neben spezialisierten Finanzmarktteilnehmern auch z.B. Industrieunternehmen solche Instrumente zu Absicherungszwecken einsetzen. Soweit Derivatkontrakte mit Transaktionspartnern außerhalb der Finanzmärkte abgeschlossen werden, besteht die Möglichkeit, dass mit ihnen einhergehende Risiken von den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft übergreifen können.
182 Siehe Art. 38 Abs. 2 Verordnung 1287/2006 zur Durchführung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufzeichnungspflichten für Wertpapierfirmen, die Meldung von Geschäften, die Markttransparenz, die Zulassung von Finanzinstrumenten zum Handel und bestimmte Begriffe im Sinne dieser Richtlinie, ABl. L 241 vom 2. September 2006, S. 1, speziell zum Begriff des Kassageschäfts und zur Abgrenzung vom Termingeschäft nach europäischem Recht. 183 Sernetz (Fn. 8), S. 49; Clouth (Fn. 98), S. 7. 184 Deutsche Bundesbank, Monatsbericht November 1994, S. 41, 44; abrufbar: https://www.bundesbank.de/resource/blob/691304/721c2e3d5e5cdfde6276ed2f55a527b5/mL/1994-11-monatsbericht-data.pdf; dazu Sernetz (Fn. 8), S. 74. 185 BIZ, Exchange-traded futures and options, by location of exchange, Table D1, 8. Dezember 2019; Statistical release: OTC derivatives statistics release at end-June 2019, 8. November 2019. Zu beachten ist, dass die Nominalbeträge zumeist nicht tatsächlich zwischen den Kontraktparteien fließen; vgl. Monopolkommission, XX. Hauptgutachten (Fn. 64), Tz. 1632. 186 BIZ, OTC derivatives outstanding: Global OTC Derivatives Market, Table D5, 8 December 2019. 187 ISDA, Pressemitteilung vom 23. April 2009; abrufbar: https://www.isda.org/a/LeiDE/press042309der.pdf;