II. Merkmale und Grundformen
Derivate weisen aus ökonomischer Sicht mehrere gemeinsame Merkmale auf, die einleitend schon angesprochen wurden und sich wie folgt umreißen lassen:
• Derivate verlagern Risiken in Bezug auf einen Referenzwert (Risikoverschiebung).188
• Aufgrund der Risikoverschiebung können Veränderungen beim Referenzwert im Falle der Realisierung von Risiken zu hohen Gewinnen bzw. Verlusten führen (Hebelwirkung).
• Die Risikoverschiebung mit Hebelwirkung lässt sich durch Kassageschäfte replizieren angesichts des Umstands, dass Derivate künstlich aus Elementen von Kassageschäften zusammengesetzt sind (Differenzgeschäft).
Eine abschließende Umschreibung von Derivaten ist wegen der Vielgestaltigkeit dieser Instrumente allerdings kaum möglich. Schwierigkeiten bereitet auch die rechtliche Einordnung aufgrund ihres Charakters als Differenzgeschäfte. Die genannten Merkmale müssen allerdings genauer betrachtet werden, um die aufsichtsrechtlich relevanten Risiken näher zu bestimmen. Deshalb wird nachfolgend auf die unterschiedlichen Arten von Derivaten eingegangen, soweit diese Arten Besonderheiten aufweisen, die im weiteren Verlauf der Untersuchung von Bedeutung sein können.
1. Risikoverschiebung
Es wird häufig gesagt, dass Derivate die wirtschaftliche Funktion haben, wirkliche oder nur hypothetische Risiken zu verschieben (z.B. das Risiko von Rohstoffpreissteigerungen). Das trifft zumindest bei Absicherungsgeschäften auch zu. Denn die am Derivatkontrakt beteiligten Vertragspartner (sog. Gegenparteien) treffen hier eine Vereinbarung, durch die ein Risiko für den einen von ihnen neutralisiert und auf den anderen übertragen wird. Ansonsten verweist das Element der Risikoverschiebung auf den Umstand, dass ein Derivat in jedem Fall eine risikobezogene Vereinbarung zum Gegenstand hat. Vertragsgegenstand ist nämlich eine Leistungspflicht, die für einen der Vertragspartner abhängig von einem auf einen Referenzwert bezogenen Ereignis ausgelöst wird. Dies führt dazu, dass jedem der beiden Vertragspartner ein neues, durch die Transaktion künstlich geschaffenen Risiko in Abhängigkeit von einem äußeren Ereignis zugewiesen wird.189 Diese vertraglich vereinbarten Risiken sind exakt gegenläufig (Nullsummengeschäft).190 Der Referenzwert wird zum Teil als Basiswert bezeichnet, ebenso wie bei den zuvor behandelten Eigen- und Fremdkapitalgeschäften. Anders als dort handelt es sich hier jedoch um einen reinen Bezugswert und nicht notwendig um eine reale Transaktion. Im Folgenden wird bei Derivaten daher zur Abgrenzung nur von Referenzwerten gesprochen.
Eine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Derivaten ist möglich in Abhängigkeit von der Art der Risikoverschiebung. Als herkömmliche Grundformen lassen sich das Festgeschäft (unbedingtes Termingeschäft) und das Optionsgeschäft (bedingtes Termingeschäft) unterscheiden. Als dritte Grundform bezeichnet man im Schrifttum häufig den Swap191 (unbedingtes Termingeschäft).
Festgeschäfte sind Rechtsgeschäfte (Austauschgeschäfte), bei denen eine Leistung zukünftig in Abhängigkeit von der Entwicklung eines Referenzwerts erfolgt. Typischerweise handelt es sich um einen Kauf (vgl. §§ 433ff. BGB), bei dem die Parteien eine spätere Lieferung zu einem bereits festgelegten Preis vereinbaren. Anders als beim sofort zu erfüllenden Kaufgeschäft bestimmt sich der Preis also nicht über einen bei Lieferung geltenden Kurs- oder Marktwert (Kassakurs), sondern über einen vorab festgelegten Wert (Terminkurs). Ein Beispiel:
Eine Bank in der EU kauft USD von einer U.S.-Bank, mit Lieferung in einer Woche zum dafür vorab fixierten EUR/USD-Wechselkurs (Terminkurs, forward rate)192. Bei steigendem Preis in EUR erlangt somit die Bank in der EU (Käufer, long) einen finanziellen Vorteil aus dem Geschäft, bei fallenden Preisen die U.S.-Bank (Verkäufer, short).
Ein Festgeschäft ist nicht zwingend von einem Terminkurs abhängig. Möglich sind ebenso Differenzkontrakte (Contracts For Difference – CFD), bei denen die Parteien lediglich vereinbaren, den Unterschied zwischen den Preis eines Referenzwerts bei Positionseröffnung und bei Schließen der Position auszugleichen. In diesem Fall besteht keine Verpflichtung, die Position (durch ein entgegengesetztes Geschäft) glattzustellen bzw. zu schließen; der Kontrakt kann also theoretisch unendlich lange laufen.193 Differenzkontrakte sind ein relativ neues Phänomen. Die herkömmlichen Festgeschäfte sind stets in Abhängigkeit von einem Terminkurs ausgestaltet (deshalb: Termingeschäfte).
Wenn ein solches Termingeschäft bilateral (Over-The-Counter – OTC) abgewickelt wird, spricht man von einem Forwardkontrakt, bei einer Abwicklung über eine Börse von einem Futurekontrakt. Bei Futures194 handelt es sich um stärker standardisierte Produkte, bei denen die Erfüllung der Einzeltransaktion jederzeit durch Sicherheiten in bar oder in Form von Wertpapieren sichergestellt ist (margin requirement).195 Dabei werden die täglichen Preisschwankungen während der Laufzeit mit den bei Abschluss geleisteten Einschüssen (initial margin) oder späteren, ergänzenden Einschüssen (variation margin) verrechnet.196 Anders als bei Forwards197 erfolgt bei Futures also ein Ausgleich nicht erst bei Fälligkeit in einer einzigen Zahlung. Im Grunde handelt es sich also um ein Bündel (Portfolio) revolvierender Forwards.198 Der Vorteil von Futures ist ihre Handelbarkeit über Börsen und ähnliche zentrale Infrastrukturen. Bei Forwards besteht mangels zentraler Gegenpartei ein höheres Erfüllungsrisiko.199 Optionsgeschäfte sind Rechtsgeschäfte, bei denen eine Leistung zukünftig in Abhängigkeit von der Entwicklung eines Referenzwerts erfolgen kann, wobei über die Leistung der Leistende (put) oder der Empfänger (call) entscheidet. Als Varianten unterscheidet man die europäische Option, die am Verfalltag auszuüben ist, und die amerikanische Option, die bis einschließlich zum Verfalltag auszuüben ist.200 Zwei Beispiele für Optionen der europäischen Variante:
Call: Ein Käufer vereinbart mit dem Verkäufer, dass er bei Ausübung der Option in einer Woche eine bestimmte Anzahl Wertpapiere zum dann geltenden Kurs geliefert bekommen kann.
Put: Ein Verkäufer vereinbart mit dem Käufer, dass er bei Ausübung der Option in einer Woche eine bestimmte Anzahl Wertpapiere zum dann geltenden Kurs liefern kann.
Optionsgeschäfte kommen in den verschiedensten Varianten vor, auch außerhalb der Finanzmärkte. Ein Beispiel sind nicht nur die voranstehend beschriebenen Standardoptionen, die als so genannte Optionsscheine (warrants) isoliert handelbar sein können. Hinzu treten so genannte exotische Optionen, die in Kombinationsprodukte (z.B. Zertifikate) hineinstrukturiert werden und ansonsten in komplexeren Finanztransaktionen zum Einsatz kommen (z.B. Bermuda-Optionen). Exotische Optionen sollen wegen ihrer besonderen Risikostruktur isoliert untersucht werden.201 Swaps sind eine Kombination von zwei aufeinander bezogenen Festgeschäften. Dadurch wird erreicht, dass die Risiken zweier Leistungen, so wie sie in Zahlungsströmen abgebildet werden, ausgetauscht werden. Zu diesem Zweck wird ein Zahlungsstrom in Bezug auf einen Referenzwert bestimmt, so dass es von der Entwicklung des Referenzwerts abhängt, ob die Gegenpartei Zahlung verlangen kann oder leisten muss. Es erfolgt typischerweise keine physische Erfüllung.
Als Grundformen des Swaps lassen sich im Wesentlichen Zins-, Währungs- und kombinierte Swaps unterscheiden.202 Bei Währungsswaps tauschen die Transaktionspartner (Swapparteien) Beträge in zwei Währungen sowie die während der Laufzeit zu leistenden Zins- und Amortisationsbeträge. Die Berechnungsweise für die Zinszahlungen ist identisch (fest oder variabel). Zum Laufzeitende erfolgt ein Rücktausch zum ursprünglichen Wechselkurs.203 Ein Beispiel für einen Währungsswap:
Eine Bank in der EU vereinbart mit einer U.S.-Bank den Tausch eines