»Ich habe es schon versucht, doch da wurde offensichtlich ein Passwort vereinbart, ohne welches man sich dort nicht autorisieren kann. Keiner in der Firma weiß etwas darüber, ich habe alle befragt. Sogar in Spanien bei diesem Victor Gómez habe ich angerufen. Sie wissen schon, der Hotelbesitzer, mit dem Thomas McLaman eng befreundet war! Aber dem hat er Code oder Passwort auch nicht verraten – behauptet er wenigstens!«
Mutlos sank Annika Hugler in ihren ergonomisch geformten Sessel und wartete auf die Standpauke ihres Lebens. Oder auf die Kündigung, welche ihr seit Tagen bei jeder Gelegenheit angedroht wurde. Aber Volker K. Mühlenstein wirkte plötzlich, als habe ihm jemand oder etwas wieder Leben eingehaucht.
»Sie haben ALLE gefragt, sagen Sie? Auch Thomas‘ Ehefrau und seinen Sohn?« Lauernd betrachtete er ihr Mienenspiel, das ihm augenblicklich verriet, dass sie eben dieses nicht getan hatte oder sogar mit Absicht verweigerte, aus welchen Gründen auch immer. Was für eine Enttäuschung, diese Hugler!
»Nein, die nicht!«, kam es kleinlaut aus dem Sessel. »Aber ich glaube nicht, dass ausgerechnet diese beiden …«
Mühlensteins Miene gefror, wurde zu einer eisigen Maske aus purer Verachtung. »Bemühen Sie sich nicht länger, Frau Hugler! Gehen Sie mir nur aus den Augen und zwar ein bisschen plötzlich. Ich kläre das selbst und erwarte, dass Sie Ihren Schreibtisch in spätestens einer Stunde geräumt haben. Hoffentlich bekommen Sie wenigstens DAS auf die Reihe! Die fristlose Kündigung wird dann per Post zugestellt, schon morgen deaktiviere ich Ihren Zugangscode zu diesen Räumen!«
Annika konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Was hatte sie in seinen Augen denn bloß verbrochen? Konnte Mühlenstein wissen, dass Stephen McLaman tatsächlich behauptete, im Besitz der Nummernfolge zu sein? Eigentlich nicht, woher auch? Ihr Stolz hatte es nämlich nicht zugelassen, dass sie bei Stephen zu Kreuze kroch und ihn um die Kombination anflehte; sie hatte hoch gepokert, indem sie diese Information gegenüber Mühlenstein absichtlich unterschlug. Und jetzt verlor sie deswegen, so wie es aussah, ihren Job.
Während ihr neuer Chef die Tür zum Thronsaal hinter sich zuknallte, suchte sie erst einmal die Toilette auf. Sie musste bei ihrem Abgang wenigstens Haltung bewahren, schon weil die anderen Weiber ganz schön feixen würden, wenn ihre »Prinzessin« die Fliege machen musste. Denen käme das gerade Recht, die ganze Zeit über war dieses nichtssagende Pack auf sie, Annika, neidisch gewesen.
Es sei denn … Annika kam eine bitterböse Idee. Sie war noch nicht geschlagen, noch nicht! Sie schminkte sich sorgfältig, beseitigte geschickt sämtliche Spuren ihres vor einigen Minuten noch desolaten seelischen Zustandes.
»Außerdem – wie will er eigentlich meine Berechtigung für die Geschäftsräume sperren, wenn er nicht einmal an die erforderlichen Zugangscodes für die Türsicherung gelangt? Die sind nämlich auch im Safe!«, murmelte Annika selbstzufrieden, als sie mit hoch erhobenem Kopf den Toilettentrakt verließ.
Die Kollegin, welche im Vorübergehen Annikas überstürzte Flucht Richtung Damen-Klo mitbekommen hatte, bekam ehrliches Mitleid. Es war dieselbe, welche vor einigen Tagen selbst in Ärger mit Mühlenstein geraten war. Klar, Annika war eine eingebildete Pute, doch eine solche Behandlung hatte selbst sie nicht verdient. Die kleine Angestellte Maier bekam ein bisschen Mitleid.
»Annika, ist alles in Ordnung, kann ich Dir irgendwie helfen?«, fragte sie mitfühlend.
Die kam gerade recht. Diese kleine, graue Maus, die sich neulich beim Mühlenstein einschleimen wollte. Ihm auch noch bereitwillig verriet, dass sie auf dem Klo Schwäche gezeigt hatte. Perfekt!
* * *
Vor dem breiten schmiedeeisernen Tor zur Einfahrt des McLamanAnwesens standen unschlüssig zwei Frauen auf dem Gehsteig; sie debattierten angeregt, ob sie hier klingeln sollten oder besser nicht. Die ältere von beiden trug ihre biederen Kleidungsstücke mindestens eine Nummer zu groß, sie hingen formlos an ihrem dürren Körper herab. Ihr bereits graues Haar trug sie zu einem Knoten gesteckt.
Die andere, fast noch ein Mädchen, sah ansprechend aus. Ihre großen, braunen Augen strahlten aus einem frischen, munteren Gesicht und sie sprühte sichtlich vor Tatendrang.
»Maria, bitte lass es uns doch wenigstens versuchen! Schau, ich bin dir heute extra zugeteilt worden, weil du viel Erfahrung hast und mich anleiten kannst. Ich möchte zu gerne ausprobieren, ob ich etwas erreichen kann«, bettelte die junge Frau.
Die Angesprochene sah skeptisch drein und rezitierte eine Bibelstelle. »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt!« Sie seufzte. »Du kannst es mir glauben, liebe Silvia – mit dieser Wahrheit wurde ich in all den Jahren oft genug konfrontiert.«
Silvia gab nicht auf. »Aber niemand hat gesagt, dass wir diese Leute bei unseren Bemühungen auslassen sollen, soviel ich weiß. Hat nicht jeder Mensch die gleiche Chance verdient?«
Maria gab sich geschlagen. »Na schön! Aber es wird hart, das ist dir doch hoffentlich bewusst? Falls sie uns überhaupt die Tür öffnen würden … « Sie drückte halbherzig auf die große Klingel-Taste unter der Überwachungskamera.
Kirstie McLaman trocknete gerade ihr frisch gewaschenes Haar mit einem Handtuch ab. Warum klingelte es eigentlich grundsätzlich dann an der Haustür, wenn man gerade nicht aufmachen konnte oder wollte?
»Stevie! Ich kann gerade nicht, würdest du bitte mal an die Tür gehen?«
»Klar!« Stephen schlenderte durch die Eingangshalle Richtung Tür, ohne zuerst den obligatorischen Blick auf das Display der Videoüberwachung zu werfen. Wozu auch? Er hatte sowieso keine Ahnung, wen seine Eltern im Jahr 2004 kannten und wen nicht. Eigentlich konnte er sich nicht einmal an jeden einzelnen erinnern, den ER in diesem Lebensabschnitt zu seinen Bekannten zählen sollte. Der Summ-Ton zeigte an, dass sich das Eingangstor elektrisch öffnete.
Nein, diese beiden Frauen, welche hier mit einem betonten Lächeln auf das Haus zukamen, kannte er definitiv nicht. Der Älteren klemmte irgendetwas unter dem linken Arm; vielleicht wollten sie für caritative Zwecke sammeln oder Abonnements für Zeitschriften werben?
»Ja, bitte?« Stephen sah von einer zur anderen.
Die Ältere straffte ihren Rücken, sah ihm direkt in die Augen. Mit sanfter Stimme stellte sie fest: »Wir sind gekommen, um dir Rettung anzubieten. Wir bringen dir die frohe Botschaft, dass Jesus dich heimholen wird – wenn du es nur zulässt!« Mit diesen Worten zog sie ein Buch unter ihrem Arm hervor. Es handelte sich um eine abgegriffene Ausgabe der Bibel.
Stephen musste lächeln. Ah, alles klar: die beiden kamen von einer gewissen Religionsgemeinschaft, welche sich auf diese Weise neue Schäfchen suchte. In seinem letzten Leben waren diese und ähnliche Gemeinschaften in der Endzeit erklärte Gegner seines Videospiels gewesen, welches sich auf Datensammlungen im Internet stützte. Immer mit dem Hinweis auf den Supercomputer
»TIER«, der das Ende der Welt einleiten werde, so wie es in der Bibel beschrieben sei.
Die jüngere Frau wertete sein Lächeln als Zustimmung, als Bereitschaft, sich aufklären und retten zu lassen. »Weißt du, alles, was für dein Seelenheil getan werden muss, steht hier drin.« Silvia zeigte auf die Bibel, ihre Wangen waren vor Begeisterung gerötet. »Du musst nur verstehen und glauben, uns allen bleibt nämlich nicht mehr viel Zeit, denn das Ende ist nah. Wir wollen dir dabei helfen.«
Stephen lächelte noch eine Spur breiter. Meine Güte, was wussten diese beiden schon? Er konnte ein Lied davon singen, wie es im Himmel zuging! Der Messias würde in wenigen Monaten als seine Tochter Jessi geboren werden und hatte während seinen beiden parallelen Existenzen bislang keinerlei Interesse gezeigt, ihn zu retten. Und er hätte den Damen auch verraten können, wann genau es mit der Erde zu Ende gehen würde. Jedenfalls mit dem Leben, wie man es heute kannte.
Die beiden Frauen traten näher an die Tür heran. »Dürfen wir kurz hereinkommen? Wir würden dir