Nanu? Kirstie traute ihren Augen kaum. Stephen hatte offensichtlich sein Zimmer picobello aufgeräumt; absolut nichts lag auf Boden oder Bett herum, wobei letzteres sogar ordentlich gemacht worden war. Seit dem Tod seines Vaters kam er ihr insgesamt verändert vor, irgendwie gereifter. So als müsse er nun endgültig seine Jugend und seinen Leichtsinn ablegen, und unmittelbar danach in Vaters Fußstapfen treten.
Vielleicht täuschte sie sich und man konnte ihm doch vertrauensvoll eine Chance in der Firma geben? Sie würde darüber nachdenken, ob sie ihre Bedenken beiseiteschieben und Stephen lieber in seinem Bestreben unterstützen sollte. Ihr widerstrebte der Gedanke, dass ansonsten jemand Fremdes künftig die totale Kontrolle über Thomas‘ Lebenswerk an sich reißen könnte. Wer konnte schon abschätzen, was in diesem Fall aus dem Unternehmen werden würde? Ein schwieriges Erbe, mit dem sie Thomas hier alleine gelassen hatte! Fast war sie ein wenig böse auf ihn.
Noch immer mochte Kirstie nicht bis in die letzte Gewissheit realisieren, dass ihr Ehemann tot war. Bei jedem Geräusch im Haus schreckte sie auf, als müsse er gleich mit seinem dynamischen Schritt um die Ecke biegen. Zu unwahrscheinlich schien es, dass sich ein Thomas McLaman einer höheren Macht hatte beugen müssen, denn dies war ihm zu Lebzeiten niemals geschehen. Und doch hatte ausgerechnet der Sensenmann diesen Kampf binnen weniger Minuten gewonnen.
Kirstie stand gedankenverloren mitten in Stephens Zimmer, bis sie sich selbst zur Ordnung rief und endlich zurück in die heutige Realität fand.
Richtig, hier stand ja der gesuchte Akten-Ordner! Als Kirstie McLaman diesen an sich nehmen und das Zimmer verlassen wollte, fiel ihr Blick auf eine hübsche, recht kompliziert aufgebaute Zeichnung. Sie lag gleich neben dem Ordner offen zugänglich auf Stephens Schreibtisch.
Was war DAS denn?! Ein Baum … Kirstie konnte nicht anders, sie musste dieses seltsam verästelte Gewächs mit den vielen Symbolen und Textstellen darauf näher betrachten. Sie verließ das Zimmer erst 20 Minuten später und war nun fest davon überzeugt, dass mit Stephen etwas nicht stimmen konnte. Ganz und gar nicht.
* * *
Die ersten paar Meter waren so richtig peinlich gewesen. Stephen musste sich eingestehen, dass er das Motorradfahren einfach nicht mehr gewohnt war; wie bei einem blutigen Fahranfänger machte die Maschine erst einmal ein paar kleine Bocksprünge, bevor sie sich ungelenk in den Straßenverkehr einreihen konnte. Es fiel Stephen nach all den Jahren der Motorrad-Abstinenz unerwartet schwer, seine geliebte Harley zu beherrschen und sie sicher durch die Cuxhavener Innenstadt zu steuern.
Diesen Donnerstag wollte er intensiv nutzen, um zu recherchieren. Wenn man sich vor kurzem noch im Jahr 2029 befunden hatte, dann per Erschießung in den Himmel »aufgefahren« war und nach einer göttlichen Standpauke wieder im Jahr 2004 auf der Erde abgesetzt wurde, konnte man schon leicht die Orientierung verlieren. Es galt, immens wichtige Fragen abzuklären, wie zum Beispiel:
Hatte ich im Juni 2004 einen Job, bei dem ich mich sehen lassen müsste?
Bin ich jetzt noch mit Kati zusammen oder nicht? Sonstige Freunde oder Feinde?
Wie sieht mein Bankkonto aus und wie ist die Geheimzahl meiner EC-Karte? Im Jahr 2004 funktionieren Abhebungen noch nicht mit einem Retina-Scan!
Wo ist Lena und besteht auch dieses Mal Selbstmordgefahr? Lebt ihre Mutter in Prag?
Fragen über Fragen, die sich Stephen fein säuberlich auf einem Notizblock notiert hatte, bevor er losgefahren war. Er konnte überhaupt nicht sicher sein, dass alle Facetten seiner neuen Existenz denselben Stand von 2004 aus dem anderen Leben aufwiesen – schließlich hatte er gleich zu Anfang feststellen müssen, dass sein Vater bereits gestorben war; das war neu und traurig zugleich. Doch dies waren nur die elementarsten Dinge, die es abzuklären galt. Im Hinblick auf die Zukunft hatte er außerdem noch zu entscheiden, auf welchen Ästen Yggdrasils er durch dieses letzte Stück Leben surfen sollte, das man ihm gewährte.
Stephen parkte die Harley vor einem kleinen Bistro am Rande der Fußgängerzone Cuxhavens, in welchem er im ersten parallelen Leben manchmal mit Lena gesessen war und bestellte sich einen Latte Macchiato mit Amaretto-Sirup. Der schmeckte hier so lecker wie nirgendwo sonst, Steve erinnerte sich wehmütig; das war damals auch Lenas Ansicht gewesen.
Nachdem die Bedienung das hohe Glas mit der Kaffeespezialität vor ihm abgesetzt hatte, las er sich seine Liste noch einmal durch. Genau, diese schwierigen Fragen mussten zuallererst abgeklärt werden! Stephen hätte etwas darum gegeben, einfach seiner Mutter ein Loch in den Bauch fragen zu können; doch was würde sie dann denken? Im harmlosesten Fall würde sie ihn besorgt zum Arzt jagen, wegen des dringenden Verdachts auf Gedächtnisschwund oder Alzheimer. Stephen blätterte das bereits beschriebene Blatt seines Blocks nach hinten, fuhr sich nervös durch das Haar und kaute nachdenklich auf dem oberen Ende seines Kugelschreibers herum.
»Mal sehen. Jetzt wird es spannend. Fest steht nur, dass ich dieses Mal alles anders machen muss, ansonsten geht es wohl per Expresslieferung ab in den Hades«, dachte sich Stephen sarkastisch.
Nach und nach fielen ihm zu seinem eigenen Entsetzen tatsächlich so einige Entscheidungen ein, die er in allernächster Zukunft zu treffen hatte, damit sich bloß um Himmels Willen nichts in die falsche Richtung entwickelte. Er notierte:
Kann ich es wagen, wieder mit Lena und später auch mit Jessi in Kontakt zu treten, ohne irreparablen Schaden anzurichten? Soll ich in Vaters Firma arbeiten? Gelingt es mir überhaupt, ohne dass ich mit ihm zusammenarbeiten kann/muss?
Wie ignoriere ich den Weltuntergang, ohne etwas zu unternehmen? Darf ich jemanden vor den drohenden Naturkatastrophen in den Jahren davor warnen?
Sollte ich nach Prag fahren, um wenigstens herauszufinden, ob ich dieses Mal bei den 144.000 Auserwählten dabei bin?
Kann ich meine abartige Geschichte der drei Leben jemandem anvertrauen oder lande ich dann schnurstracks in der Psychiatrie? Was wollen die da oben denn genau von mir, was ich noch NICHT getan und ausprobiert hätte?
Beim Lesen seiner eigenen Liste beschlich Stephen das ungute Gefühl, dass er die Sache mit seinem Seelenheil ja im Grunde nur versieben konnte. Wenn er so gar nicht wusste, worum es den himmlischen Herrschaften überhaupt ging? Die Mutlosigkeit befiel ihn angesichts dieser Perspektive wie ein lähmender Kokon. Stephen winkte die Bedienung zu sich, um seine Zeche zu bezahlen. Er hatte beschlossen, die einfachste Frage zuerst abzuklären: diejenige nach seinem Kontostand. Die zu seiner Karte gehörende Geheimzahl hatte er zum Glück in verschlüsselter Form hinter dem Registereintrag »Kohle« auf seinem Handy gefunden, wenigstens ein Problem weniger! Da würde er gleichzeitig feststellen können, ob aktuell Gehaltszahlungen von irgendeinem Arbeitgeber auf seinem Konto eingingen oder nicht.
Als er nach Erhalt der Rechnung seine Brieftasche aus der anderen Jackentasche herausfischen wollte, ertastete er darin zu seiner Überraschung einen weiteren Gegenstand. Ja klar, Belindas Handy! Daran hatte er gar nicht mehr gedacht … Damit stand jetzt fest, wohin er gleich nach seinem Besuch auf der Bank fahren würde; Belinda hatte ihm neulich im Café ziemlich frustriert anvertraut, in welchem Salon sie arbeitete, was sich nun als Vorteil herausstellte.
* * *
»Zum Teufel noch mal, dann rufen Sie eben die Firma an, die diesen Safe hier installiert hat! Die sollen ihn aufschweißen, mit einem Dietrich bearbeiten, oder was sonst denen einfällt!« Volker K. Mühlenstein kochte vor Wut. Seit Tagen versuchte er, diese unfähige Vorzimmerschnepfe dazu zu bewegen, endlich seine Aufstellungen zu schreiben, welche er langsam ultradringend für die Vorstandssitzung benötigte. Und sie wollte sich gebetsmühlenartig damit herausreden, sie brauche dafür mehrere Unterlagen, die im Safe des Thronsaals lagerten. So langsam riss Mühlenstein auch der allerletzte Geduldsfaden.
»Herr Mühlenstein, das geht eben nicht! Diese Firma weigert sich, auch nur einen Finger krumm zu machen!« Annika Hugler hatte mittlerweile alles eingebüßt, was ihre oberflächliche