Belinda hob den Blick und strahlte. »Genau das sage ich auch immer! Ich habe nämlich einen Hang zum Mystischen, musst du wissen! Die ganzen alten Geschichten, von Legenden über die Insel Avalon bis hin zu archaischen Ritualen – da stehe ich total drauf!«, verkündete sie stolz.
Stephen musterte Belinda von oben bis unten. Kein Zweifel, unter diesem Kittel trug sie ausnahmslos Schwarz. »Na, wer wäre denn auf so etwas von selbst gekommen?«, lachte er.
Die Chefin Belindas, eine stark geschminkte Mittdreißigerin, sah bereits missbilligend in ihre Richtung; Belinda schien es gar nicht zu registrieren, doch Stephen wollte nicht zum Grund für Ungemach werden. »Ich muss weiter, Belinda. Du besitzt jetzt schließlich wieder ein Handy, kannst dich gerne demnächst mal bei mir melden, wenn du magst.« Schon war er durch die Tür verschwunden und stieg draußen auf sein Motorrad.
»Darauf kannst du dich allerdings verlassen«, dachte Belinda vergnügt, als sie Frau Scheunenhauers Gesicht weiter bearbeitete und gleichzeitig aus dem Augenwinkel heraus beobachtete, wie Stephen mit seiner heißen Maschine aus ihrem Sichtfeld entschwand.
Die Inhaberin des Salons guckte noch immer reichlich argwöhnisch aus der Wäsche. Belinda bemerkte es und zuckte mit den Schultern. »WAS denn?«, fragte sie eine Spur zu trotzig. »Das eben war mein Bruder!«
* * *
Kirstie erwartete Stephen am späten Nachmittag bereits ungeduldig im Vorgarten. »Da bist du ja endlich! Warum konnte ich dich denn nicht auf deinem Handy erreichen?«
Stephen schüttelte den Kopf. »Während ich Motorrad fahre? Na ja, ich habe keine Lust, frontal gegen einen Möbel-Laster zu prallen. Oder gegen etwas anderes«, fügte er hinzu. Seine Mutter würde den makabren Joke mit Verweis auf die Vorkommnisse in seinem parallelen Leben schließlich nicht verstehen können; was ein Glück für ihn war, denn sonst hätte er das Motorrad vermutlich nie wieder berühren dürfen.
»Ach so, alles klar. Es ist ja nur … die haben es so dringend gemacht. Aber von vorne! Die LAMANTEC hat mich angerufen, man erwarte uns »gestern« in der Firma, wie diese Hugler meinte. Volker Mühlenstein sei auf 180, so wörtlich, weil er unbedingt Sachen aus dem Safe in Vaters Büro benötige. Die sind dort einvernehmlich der irrigen Ansicht, DU wärst im Besitz der ZahlenKombination, die sie brauchen, um das Ding aufzubekommen.« Stephen musste herzhaft lachen. Aha, er hatte Recht behalten. Der Hugler war inzwischen vermutlich das Lachen doch vergangen, genau wie er es vorhergesehen hatte. Sie hatte offensichtlich bei Mühlenstein zu Kreuze kriechen müssen.
Kirstie nickte und lachte ebenfalls. »Ja, ich habe mich auch köstlich amüsiert! Als ob Vater so etwas Wichtiges ausgerechnet uns auf die Nase gebunden hätte. Aber weißt du was? Das ist DIE Gelegenheit für mich, endlich dieser Hugler eine kleine Abreibung zu verpassen. Wir können das Missverständnis ja dann später immer noch aufklären, findest du nicht? Auf diese Weise lassen sie uns wenigstens anstandslos hinein.«
So gefiel Stephen seine Mutter schon wieder viel besser. Mit ihrem verschmitzten, hintergründigen Lächeln und den hellwachen grünen Augen sah sie fast wieder aus wie die schöne Frau, die sie vor Vaters Tod gewesen war.
»Logisch! Von mir aus können wir gleich los. Was ist, hast du Lust?« Stephen tätschelte mit der flachen Hand die Rückbank der Harley und vollführte eine auffordernde Bewegung mit dem Kinn in Richtung seiner Mutter.
»Au ja, das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht! Warte, ich hole nur schnell Helm und Lederjacke!« Kirstie war augenblicklich Feuer und Flamme. Mit wehender Mähne verschwand sie im Haus.
Stephen empfand glühenden Besitzerstolz. Seine Mutter! Das Geburtsdatum auf ihrem Ausweis stimmte so gar nicht mit ihrem gefühlten Alter überein. Sie war trotz ihrer eher problematischen Ehe eine spontane, lebendige Persönlichkeit geblieben, auch wenn Vater das immer missfallen hatte. Seiner Ansicht nach hätte sie sich vermutlich wie diese dumme Zicke Hugler verhalten sollen, um an der Seite des erfolgreichen Geschäftsmannes lediglich die perfekte Verzierung zu spielen. Aber er hatte mit der Zeit lernen müssen, dass man mit solch einem Ansinnen speziell bei Kirstie auf Granit biss. Auf besonders harten Granit.
Kurze Zeit später trafen Mutter und Sohn auf dem Parkplatz der LAMANTEC AG ein; mit den Helmen unter die Arme geklemmt strebten sie zielstrebig auf das Bürogebäude zu, welches unter anderem das international tätige Software-Unternehmen beherbergte. »Auf in den Kampf!«, forderte Kirstie mit einem vielsagenden Seitenblick ihren Sohn auf, in den Fahrstuhl zu steigen. Während sich der Aufzug nahezu lautlos nach oben bewegte, sprachen Stephen und Kirstie kein Wort. Jeder überlegte für sich selbst, wie es mit der Firma nun wohl weitergehen würde. Stephen wusste aufgrund seiner Bankrecherchen, dass er anscheinend noch für die I-COMP GmbH tätig war; somit erübrigte sich derzeit eigentlich die Idee, für die LAMANTEC arbeiten zu wollen.
Kirstie hingegen musste erstens ihren aufgestauten Frust bei Annika Hugler loswerden und zweitens ihren Sohn daran hindern, dort drinnen unbedachte Äußerungen wegen einer Übertragung der Firmenleitung auf sich selbst bei den falschen Leuten von sich zu geben. Alles nicht so einfach.
Schließlich standen sie beide sinnierend vor dem großzügigen Eingangsportal zu den Firmenräumen; Thomas hatte die Notwendigkeit von dessen eindrucksvoller Größe damals vor dem Aufsichtsrat damit begründet, dass ja schließlich technische Anlagen durch diese Tür befördert werden müssten und somit die immensen Kosten gerechtfertigt seien. Er hatte eigentlich immer seine oft egoistischen Pläne durchsetzen können.
»Alles nur eine Frage der einleuchtenden Begründung und deren klarem Vortrag!«, hatte eines seiner Lieblings-Credos gelautet. Diese Fähigkeit kultivierte Thomas im Laufe seines Geschäftslebens wahrlich bis zur Perfektion; seiner Familie allerdings war er mit dieser unbeirrbaren Hartnäckigkeit nicht selten tierisch auf den Geist gegangen.
Er betonte in solchen Fällen gerne seine schottische Ahnenlinie, in welcher sich angeblich so mancher edle Clanführer befunden hatte. Es war unübersehbar, dass sich auch Thomas McLaman aus der Tradition heraus einen solchen Status zurechnete, wenn auch in leicht modernisierter Form. Thomas ersetzte einfach den traditionellen Schotten-Kilt mit einem Designeranzug von Armani. Kirstie allerdings hatte seine ehrgeizigen Führerambitionen oft reichlich respektlos »schottischer Dickschädel« genannt.
»Willst du oder soll ich?«, riss Kirstie ihren Sohn aus seinen Gedanken.
»ICH melde mich an«, erwiderte dieser selbstbewusst. »Schließlich wollen die von MIR den Code haben!« Er drückte den Klingeltaster und war echt erstaunt, wie schnell die Hugler ihm dieses Mal Einlass gewährte. Nicht nur das, sie kam sogar persönlich zur Tür, um ihn wie einen Ehrengast zuvorkommend hinein zu geleiten. Kirstie hingegen ignorierte sie einfach.
»Stephen, wie schön, Sie zu sehen! Bitte gehen Sie doch gleich hinein, Herr Mühlenstein hat mich angewiesen, Sie jederzeit sofort zu ihm vorzulassen. Er weiß schon Bescheid, dass Sie die richtige Zahlenkombination kennen! Bitte öffnen Sie uns dieses stählerne Ungeheuer, wir müssen dringend an die Unterlagen heran!«
Wenn Steve eines hasste, dann war es derartig freche Heuchelei. Diese blöde Kuh! Dachte sie denn allen Ernstes, er habe ihren dämlichen Auftritt von neulich schon vergessen? Na ja, die würde es jetzt erst einmal mit Mutter zu tun bekommen, dachte er mit Genugtuung, als er den Thronsaal ansteuerte.
Volker K. Mühlenstein verhielt sich ebenfalls völlig atypisch.
»Denen muss ja wirklich der Kittel lichterloh brennen«, freute sich Stephen in Gedanken, als Mühlenstein ihn übertrieben höflich bat, Platz zu nehmen. Sogar den Stuhl rückte er ihm höchstpersönlich zurecht. Stephen zementierte seinerseits achtlos seinen Motorradhelm mit einem dumpfen Geräusch auf die polierte Tischplatte.
»Sososo, Herr McLaman. Sie sind also Thomas‘ Sohn. Ich freue mich sehr, Sie endlich persönlich kennen zu lernen. Sie sind Programmierer, wie ich hörte?« Während er sprach, hielt dieser Schleimscheißer ununterbrochen die Mundwinkel krampfhaft nach