Angst macht große Augen. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016017
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Augen ein Hauch von Traurigkeit. Der gleiche wehmütige Blick, mit dem sie die Segler auf der Alster immer beobachtete.

      „Also doch. Du willst gar nicht, dass wir fahren. Ich habe mir schon die ganze Zeit gedacht, dass dir hier allein alles zu viel wird.“

      Valerie biss sich auf die Lippe, sie merkte sofort, wenn sie es übertrieben hatte. Eigentlich wollte sie die Freundin nur ein wenig aufziehen, aber die hatte heute anscheinend beschlossen, ihren empfindlichen Tag zu haben.

      „Quatsch, ich wollte dich nur ein bisschen ärgern.“

      Sie trat an Anna-Lena heran und legte ihr die Hand auf die Schulter.

      „Ich weiß doch, wie schräg du drauf bist und wie du reagierst. Aber mal im Ernst, früher haben uns für eine Woche Dänemark ein paar T-Shirts und eine Regenjacke gereicht. Mit chic Ausgehen ist da nichts.“

      „Sei mal ganz ehrlich. Du würdest doch am liebsten mit uns mitkommen, mitsamt der Kleinen.“

      „Das ist Blödsinn. Erstens muss Zoé zur Schule und zweitens tut uns eine kurze Trennung mal ganz gut. Wir leben ja schon wie ein altes Ehepaar zusammen, auch wenn du deinen Stefan hast.“

      „Na und? Nimm die Kleine für eine Woche aus der Schule raus. Masern, Röteln, was weiß ich. Die eine Woche wird ihr nicht wehtun und im neuen Haus ist bis dahin auch noch nichts zu tun. Und regnen soll es hier auch noch für die nächsten Tage, fängt heute Abend an.“

      Das neue Haus.

      Die Detektivin überschlug, wie lange Anna-Lena und sie bereits gemeinsam in der komfortablen Wohnung lebten. Waren es vier oder bereits fünf Jahre? Die Zeit jedenfalls schien wie im Zeitraffer vergangen zu sein, seit sie mit Zoé im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse in Italien in die Hansestadt zurückgekehrt war und sie Anna-Lena nach deren Entlassung aus der Rehaklinik zu sich holte. Für die Adoption der Kleinen hatten die Freundinnen, anwaltlich unglücklich beraten, dem Jugendamt eine lesbische Lebensgemeinschaft vorgespielt. Und ausgerechnet in dieser Zeit verliebte sich Anna-Lena in Stefan, dem Streifenpolizisten aus Niedersachsen. Als wären die damaligen Lebensumstände nicht turbulent genug, schleppte der seinen Kumpel Net mit an, mit dem er zusammen Pädophile im Internet aufspürte. Net, der Computer- und Technikfreak war, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich schräg.

      Mit einer Gesichtsblindheit geschlagen, die ihn an seiner eigenen Mutter vorbeilaufen lassen würde, verabscheute er jegliche Nähe von anderen Menschen. Dafür war er in technischen Dingen höchst versiert und seine Arbeit bei einem Provider machte ihn unersetzlich, was das Beschaffen von Daten und das Aufspüren von Handys und deren Besitzer anging. Das hatte er in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis stellen können.

      Und jetzt bahnte sich ein Einschnitt an.

      Für Zoé waren Valerie und Anna-Lena gleichwertige Angehörige, wie große Schwestern, eine Trennung dieses Dreiergespanns völlig undenkbar. Deshalb zerbrach sie sich schon, kurz nachdem Anna-Lena und Stefan zusammengekommen waren, den Kopf, wie es weitergehen würde. Und nun war es fast soweit, es sollte ein neuer Lebensabschnitt beginnen.

      Vor gut einem Jahr von Stefan als Gedankenspiel in den Raum geworfen, standen sie jetzt kurz davor, von Rotherbaum nach Othmarschen umzuziehen. Jede der Freundinnen bekam seine eigene Haushälfte. Stefan konnte endlich mit Anna-Lena zusammenziehen und Zoé würde die Trennung überhaupt nicht als solche wahrnehmen.

      „Nein. Auf keinen Fall nehme ich sie aus der Schule raus, um dann mit ihr Urlaub zu machen. Was für ein Zeichen würde ich da für ihre Erziehung setzen.“

      „Puuuh, preußisch, praktisch, gut. Du wirst wohl nie über deinen Schatten springen. Mit der Einstellung konntest du auch nur Beamtin werden.“

      „Das bin ich nicht mehr. Aber was Zoés Erziehung angeht, verstehe ich keinen Spaß.“

      „Ach, denk lieber daran, was du versprochen hast?“

      „Was habe ich denn versprochen?“

      „Keine schwammigen Aufträge anzunehmen und keine Alleingänge, solange ich nicht da bin.“

      „So, hab ich das?“

      „Ja, auf die letzte Flasche Sangiovese, die wir geleert haben. Macht euch eine schöne Zeit. Lade doch mal Net zum Essen ein.“

      Valerie lachte.

      „Was soll ich denn mit dem schrägen Vogel?“

      „Er ist immerhin dein freier Mitarbeiter.“

      „Täusche ich mich oder geht da schon wieder irgendetwas quer in deinem Kopf? Du hast das 'freie' so betont.“

      Anna-Lena winkte Valerie dichter zu sich heran und sprach leiser als zuvor weiter, obwohl sich sonst niemand in der Wohnung befand.

      „Ich merke doch, dass er auf dich steht. Und außerdem, er ist doch mit seiner Gesichtsblindheit der ideale Lover-to-go. Er erkennt dich hinterher nicht mehr. Wenn du mal keinen Bock mehr auf ihn hast, tust du einfach so, als wärst du jemand Fremdes.“

      „Geht es dir nicht gut? Mir fehlen jetzt wirklich die Worte. Ich glaube, wenn dein Stefan wüsste, was hier drin vor sich geht“, sie tippte der Freundin auf die Stirn, „der würde schreiend weglaufen.“

      „Bei mir geht wenigstens überhaupt noch etwas vor“, winkte Anna-Lena ungerührt ab und wandte sich wieder ihrem Koffer zu, als hätte es die Unterhaltung nie gegeben.

      „Was meinst du, soll ich diese Jacke mitnehmen?“

      Sie hielt ein Kostümjäckchen in die Luft, das zu jeder Premierenveranstaltung gepasst hätte.

      „So ein Quatsch. Wo willst du denn das anziehen? Nimm eine dünne Jacke, falls es warm wird und eine Regenjacke mit. Und tue mir bitte einen Gefallen.“

      Valerie stand genau vor der Freundin. Sie beugte sich vor und fasste auf beide Schultern.

      „Mach dir nicht unnötig das Herz schwer. Fahr nicht nach Klitmöller oder zu irgendeinem anderen Surfspot.“

      „Ach was.“

      Anna-Lena drehte sich zur Seite.

      Wie oft waren die Freundinnen gemeinsam zum Surfen in Dänemark gewesen. Nicht unter Extrembedingungen, dazu fehlte ihnen die Erfahrung. Sie waren Soulsurferinnen, den Begriff hatte die Freundin irgendwo aufgeschnappt. Aber wann immer sich die Gelegenheit bot, waren sie zu den Hardcorespots wie Klitmöller gefahren und hatten den richtigen Surfcracks in den Wellen zugesehen. Wenn Anna-Lena schon den Seglern in ihren Nussschalen auf der Alster sehnsüchtig hinterher starrte, wie sehr würde ihr der Anblick der Surfer wehtun.

      An der Eingangstür klapperte es, Zoé kam von der Schule zurück. Gerade rechtzeitig, um die trübe Stimmung zu vertreiben. Mit weit ausgebreiteten Armen kam sie in Anna-Lenas Zimmer gelaufen und stutzte, als sie den Koffer auf dem Bett liegen sah.

      „Fährst du weg?“

      „Na klar. Darüber haben wir doch gesprochen, dass Stefan und ich eine Woche Urlaub machen. Hast du gedacht, wir machen nur Spaß?“

      Dem enttäuschten Gesicht war anzusehen, dass sie genau das gedacht haben musste.

      „Au Mann, ihr macht es mir wirklich nicht leicht. Mit zwei Spaßbremsen in einer Wohnung, es wird Zeit, dass wir umziehen. Hör mal, Zoé.“

      Verschwörerisch zog sie das achtjährige Mädchen ganz dicht zu sich heran und senkte den Ton.

      „Du bist jetzt die Chefin hier, wenn ich nicht da bin. Du musst mir versprechen, auf Valerie aufzupassen, solange ich weg bin. Keine Aufträge, während ihr allein seid, ist das klar? Ruf mich sofort an, wenn Valerie etwas Schwammiges macht.“

      Die Kleine nickte so energisch, dass ihre blonden Zöpfe hin und her sprangen.

      3.

      Der Mann kam gebückt von der kleinen Kreuzung her angelaufen. Weiche Sportschuhsohlen verursachten bei jedem Auftreten auf der