Angst macht große Augen. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016017
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Vorsichtig glitt seine rechte Hand vom Tisch herunter, um langsam in Richtung des Einhandmessers zu wandern, das er an seinem Gürtel trug.

       *****

      Azamat war wieder aufgestanden, kaum dass der Eindringling den Flur verlassen hatte. Hastig zog er sich die Hose nach oben. Dabei beugte er sich zur Toilettentür und lehnte sein Ohr auf die Kunststoffoberfläche, um hören zu können, ob noch jemand in den Container geschlichen war. Erleichtert stellte er fest, dass es völlig still im Flur blieb, es war offenbar nur eine einzelne Person hereingekommen, wenn noch jemand da war, musste er sich draußen befinden. Irritierend war für ihn, dass auch aus dem großen Raum kein einziger Laut an sein Ohr drang. Irgendetwas musste doch gesprochen werden, eine Reaktion seiner Mitbewohner zu dem spätabendlichen Besucher, aber nichts dergleichen passierte. Keine Begrüßung, kein Protest, nur völlige, beunruhigende Stille.

      Was er dann zu hören bekam, ließ ihn wie unter einem Peitschenhieb in Deckung tauchen. Ein Geräusch wie das Ploppen beim Öffnen einer Sektflasche, dezent und unaufdringlich. Ihm folgte ein dumpfes Geräusch, als ob etwas Schweres auf den Boden fiel.

      „Aza.....!“

      Bulats gellender Schrei riss mitten im Wort ab, wieder klatschte etwas Schweres zu Boden, ein Gewicht, das wie zuvor die Planken des Containers bis in die Nasszelle hinein erzittern ließ. Azamat hockte tief, fast auf dem Boden und überlegte fieberhaft, wie er reagieren sollte. Das Oberlichtfenster war viel zu klein und wirkte in seiner Position unerreichbar. Im gleichen Moment klackerte es mehrere Male hintereinander, etwas Hartes schlug gegen einen harten Widerstand. Panisch versuchte Azamat, den Sinn des Geräusches zu erfassen. Als er im fahlen Licht plötzlich Löcher in der Wand zum Aufenthaltsraum wahrnahm, stieß er einen erschreckten Laut aus und sprang er ohne darüber nachzudenken auf.

      Nur raus. RAUS!

      Er riss die angelehnte Tür auf und war bereits im kleinen Flur. Mit zwei, drei großen Schritten nach links war er am Ausgang des Baucontainers. Hinter sich konnte er hören, wie die fast lautlos abgefeuerten Projektile mit lautem Klacken einschlugen. Er schaffte es nach draußen, überrascht, keine weiteren Personen anzutreffen, die ihn an seiner Flucht hindern könnten und widerstand der Versuchung, über den angrenzenden freien Bereich in Richtung der Lichter der Großstadt zu rennen. Stattdessen wandte er sich nach rechts, zwischen den Behausungen der Bauarbeiter hindurch mitten hinein ins Containerdorf. Mehrmals wechselte er die Richtung. Als er das Gefühl hatte, der herausgelaufene Vorsprung sei groß genug, schaute er sich nach allen Seiten um, glitt nach unten auf den Boden und kroch unter einen der Wohnbehälter. Azamat suchte sich Deckung hinter verkeilten Kanthölzern, die das Gebäude über ihm trugen und machte sich so klein wie möglich. Ein faustgroßes Tier wurde durch seine Anwesenheit aufgeschreckt und verschwand fast lautlos in der Nacht.

      Wieder versuchte Azamat, so flach wie möglich zu atmen. Zeitweise hielt er den Atem an, um besser lauschen zu können.

      Niemand schien ihm zu folgen. Hatten sie es aufgegeben oder waren sie in eine andere Richtung gelaufen? Es blieb gespenstisch still, keine hektischen Rufe, keine schleichenden Schritte, die sich vorbei drückten. Aber sie waren dort draußen irgendwo, lauerten auf ihn, daran zweifelte er nicht einen Moment lang. Aus den anderen Behausungen drangen keine Geräusche. Niemand schien das Drama, das sich eben abgespielt hatte, wahrgenommen zu haben.

      Nach Minuten, die ihm endlos vorgekommen waren, hörte er weit entfernt den Motor eines schweren Fahrzeuges. Das Geräusch kam langsam näher, bis es sich seinem Gefühl nach in der Nähe des Containers befand, seines Containers und dem seiner Kameraden. Der Wagen stand, dann erstarb auch das Motorengeräusch. Mehrere Türen klappten, zu schnell hintereinander für eine einzelne Person. Stimmen drangen nicht an sein Ohr, so sehr er sich auch bemühte, er konnte keine Unterhaltung hören. Es dauerte nicht lange, nur wenige Minuten, gefühlt deutlich weniger als die Wartezeit zuvor, dann klappten erneut Türen, der Wagen wurde gestartet und entfernte sich zügig. In der Richtung, in der er wegfuhr, gab es keine Straße, nur eine Brachfläche. Sand und Kies, unebener Boden, nicht befestigt genug für einen Pkw. Nur ein Geländewagen war in der Lage, es hier entlang zu schaffen.

      Während draußen die Stille zurückkehrte, schaffte er es, seine Nerven zu beruhigen, die Atmung normalisierte sich. Nur kühl kalkulierend würde es ihm gelingen, diese Situation zu bestehen. Auch seine andere Sinne meldeten sich zurück und er nahm den Verwesungsgeruch wahr, der in seinem Versteck herrschte. Je länger er ihn roch, umso penetranter wurde er. Deshalb also war die Ratte unter die Behausung gekrabbelt, irgendwo hier unten verrottete ein totes Tier, er hatte sie um ihre Mahlzeit gebracht. Weil er nichts sehen konnte, bemühte er sich, so bewegungslos wie möglich zu bleiben und nicht mit dem Kopf an den Untergrund zu stoßen. Während er nach einiger Zeit überlegte, ob er es wagen könnte, bereits das Versteck zu verlassen, drangen wie aus dem Nichts aufgeregte Schreie an seine Ohren. Jemand brüllte aus Leibeskräften und schlug dabei mit einem harten Gegenstand wieder und wieder gegen Containerwände. Laut hallten die metallischen Geräusche durch die schlafende Behelfssiedlung. Die Schreie weiterer Personen kamen schnell hinzu. Eine Sirene ertönte. Wie bei einem Weckruf schienen die Bewohner in den Hütten ringsherum aus dem Schlaf gerissen zu werden. Türen klappten, es wurde lauter, irgendetwas schien die Männer in Hektik zu versetzen. Auch über sich hörte er Schritte, die Bewohner über seinem Versteck kamen herausgerannt. Er sah schwere Stiefel die Treppenstufen herunterkommen und in die Richtung seines Containers laufen. Dem ersten Impuls, sich unter die herumlaufenden Männer zu mischen, widerstand er noch. Als sich Sirenengeheul näherte und Blaulicht zu sehen war, hielt er es nicht mehr aus. Vorsichtig, um nicht mit dem verwesenden Tier in Berührung zu kommen, schob sich Azamat bis an den Rand seines Verstecks. Als er sicher war, dass niemand in direkter Nähe war, der ihn sehen konnte, wand er sich schnell heraus und war auf den Beinen. Unsicher ging er zwischen den Hütten hindurch. An der nach außen offen stehenden Tür einer der Baubuden hing eine gelbe Regenjacke. Sich nach allen Seiten umschauend griff er sie sich im Vorbeigehen und zog sie über sein Shirt. Den Kragen hochgestellt, mit eingezogenem Kopf, mischte er sich unter eine größere Gruppe von Arbeitern, die in sicherer Entfernung zusahen, wie der Container, in dem er mehrere Wochen lang gelebt hatte, abbrannte. Mit ihm verbrannten seine wenigen Habseligkeiten und die Erinnerungen an sein bisheriges Leben. Und nach allem, was er unmittelbar vor seiner hektischen Flucht aus der Hütte gehört hatte, auch seine beiden Mitbewohner.

      Die Feuerwehrleute trafen fast gleichzeitig mit ihm ein. Sie drängten die Schaulustigen zurück. Obwohl sie massiv gegen das Feuer vorgingen, konnten sie nur noch verhindern, dass der Brand nicht auf die benachbarten Behausungen übergriff.

      Azamat beherrschte die deutsche Sprache mittlerweile ausreichend, um sich zu verständigen zu können. Während er ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen auf die Flammen starrte, schnappte er Wortfetzen der umstehenden Männer auf. Die waren sich einig, je länger sie in dieser großen Runde darüber austauschten, dass man wohl ab und an jemanden hineingehen oder herauskommen sehen hatte, aber niemand die Bewohner gekannt hatte, geschweige denn die Firma, für die sie tätig gewesen waren.

      Azamat zog den Kopf noch weiter ein, vermied jeden Blickkontakt und drückte sich in den Schatten. Geduldig wartete er ab, bis der Brand endlich gelöscht war. Von den Wänden waren nur noch Gerippe übrig geblieben, das Dach fehlte komplett. Einer der Feuerwehrmänner betrat schließlich, mit einer langstieligen Harke bewaffnet, die Ruine. In seinen schweren Stiefeln watete er durch das knöcheltiefe Löschwasser, während ihm ein Kamerad mit einem starken Scheinwerfer von draußen Licht spendete. Bedächtig zog er mit den Spitzen seines Werkzeugs undefinierbare Klumpen auseinander. Als Azamat ihn rufen hörte, dass nur verbrannter Müll herumlag und keine Menschen zu Schaden gekommen seien, wandte er sich ab und verschwand in der Nacht.

      2.

      Zwei Tage zuvor.

      „Was denn nicht noch alles? Nimm doch gleich den ganzen Hausstand mit. Oder ist das etwa schon der Umzug?“

      Valerie war lautlos und unbemerkt durch den Flur gekommen. Jetzt lehnte sie mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür zu Anna-Lenas Zimmer und sah der Freundin beim Packen zu. Die saß in ihrem Rollstuhl neben dem Bett, auf dem ein aufgeklappter