Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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Vom Gespräch seiner Tante mit ihrem Mann, der mittlerweile in die Küche getreten war, verstand er kein Wort. Die Tante führte ihn in eine Dachkammer, wo er sich vor deren Augen ausziehen und ein langes Nachthemd anziehen musste. Noch während des von der Tante gesprochenen Nachtgebets fiel er in einen tiefen Schlaf.

      Für Max begannen sieben Jahre im Kreis seiner Tante und deren Glaubensgemeinschaft. Mit dem Makel eines Kindes, entsprungen einer unheiligen und ohne kirchlichen Segen gelebten Ehe. Dem einer abtrünnigen Mutter und eines dem Teufel zugewandten Vaters in Sünde gezeugt und geborenen, musste Max durch die harte Schule der Glaubensgemeinschaft. Nichts war wie zuvor. Schluss mit den kleinen Freiheiten, die sich Max und sein Bruder während der langen Jahre, als die Mutter krank im Bett gelegen war, genommen hatten. Jetzt, in der Obhut und unter der Kontrolle der Tante, musste er sich täglich waschen und saubere Kleidung tragen, die aussah wie die der anderen Kinder der Täufer-Gemeinschaft. Allein schon diese radikale Umstellung seiner Lebensumständen barg genügend Zündstoff. Die auf pingelige Sauberkeit achtende Tante ermahnte ihn ständig, es setzte Strafen ab, Ohrfeigen und nicht selten Stockschläge auf den Hintern. Für die Körperstrafen war der Onkel zuständig. In der Gemeinschaft war dieser hoch geachtet und als Verkünder der Heiligen Schrift angesehen. Für die brutale Züchtigung mit einem Stock fand er genügend Bibelzitate, mit denen er sein Handeln rechtfertigte. Während er auf Max einschlug, zitierte er seine biblischen Weisheiten.

      Max musste ein grobes, auf Zucht und Ordnung basierendes Regime über sich ergehen lassen. Seine Zieheltern hatten die Absicht, aus ihm ein gläubiges Mitglied der Gemeinschaft zu machen. Bis zur Taufe als Erwachsener sollte er ein den Lehren der Täufer folgender, gläubiger Christ werden. Die ihm bei seiner Ankunft unverständliche Sprache lernte er in kurzer Zeit. Es dauerte nur wenige Monate, bis er in der Schule den Lehrern folgen konnte. Die anfänglichen Sprachprobleme und die Abweichungen vom Lehrplan in der Schweiz bedingten die Zurückstufung um ein Schuljahr. Keine Nachricht, kein Brief von seinem Bruder oder von Elsi erreichten ihn. Max litt, er hatte Heimweh nach seinem Zwillingsbruder. Er sehnte sich zurück auf den Hof, auf dem sie zusammen gespielt und herumgetollt hatten. Nur zu gerne hätte er das strenge Leben in Holland gegen die Mühen auf dem väterlichen Hof, den Schmutz und die nicht voraussehbaren Launen seines Vaters getauscht.

      Gut drei Jahre lebte Max auf Tante Annas Hof, als sich die Stimmung in der Gemeinschaft verdüsterte. Fremde Männer von Täufergemeinden aus dem Schwarzwald in Deutschland kamen zu Besuch. Dann folgten deren Familien mit ihrem Hab und Gut nach und fanden Unterschlupf bei ihren holländischen Glaubensbrüdern. Auch auf Tante Annas Hof zog eine Familie ein. Max musste seine kleine Kammer mit drei Buben der Zugezogenen teilen. Ein zweites Bett wurde ins Zimmer gestellt, sodass sich immer zwei ein Bett teilen mussten. Auch Mädchen gehörten zur Familie der Zugezogenen. Für sie wurden im Schlafzimmer ihrer Eltern Strohsäcke als Schlafunterlagen bereitgestellt. Zu den durch die Enge im Haus aufkommenden Spannungen gesellte sich die von den Geflüchteten geschürte Angst vor Verfolgung.

      Wenige Jahre zuvor hatten in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernommen. Alle Organisationen und Gemeinschaften, die sich deren Weltanschauung verweigerten, wurden verfolgt. Die Täufer anerkannten wohl die Obrigkeiten, verweigerten jedoch jeglichen Militärdienst. Deshalb wurden sie als pazifistische Organisation verfolgt, Militärdienstverweigerer ins Gefängnis oder zur Umerziehung in Lager gesteckt. Es blieb ihnen nur die Flucht.

      Der Aufenthalt in Holland sollte nur ein vorübergehender sein. Sie glaubten, dass der Schöpfer ein derart menschenverachtendes Regime nicht dulden und es bald vernichten würde. Die Zuversicht, auf ihre Höfe zurückkehren zu können, schwand, je länger sie von dort weg waren und die Angst, selbst in Holland von den Nazis verfolgt zu werden, stieg. Irgendwann entschied der Rat der Ältesten, Tante Annas Mann nach Amerika zu schicken. Mit dortigen Glaubensbrüdern sollte er die Übersiedlung der Verfolgten in die USA vorbereiten. Nach drei langen Monaten kehrte er mit der guten Nachricht zurück, dass die Täufergemeinde in Amerika alle Flüchtlinge aufnehmen werde und gegenüber dem Staat die für die Einreise notwendigen Bürgschaften leiste. Die Flüchtlinge verkauften ihren holländischen Brüdern alle Geräte, die sie nicht mit dem Schiff, das sie nach Pennsylvanien bringen sollte, mitnehmen konnten.

      Auch nach dem Wegzug der Flüchtlinge blieben Spannung und Verunsicherung bestehen. Den Täufern war es nicht gestattet, ein Radio zu besitzen. Mit diesem Teufelsding würden Schund und Unzüchtiges, Musik und unmoralische Gedanken verbreitet. Doch in Anbetracht der besonderen politischen Lage erlaubte der Rat der Ältesten dem Onkel und Prediger, ein Rundfunkgerät zu kaufen und zu installieren. In der Küche sitzend, hörten Anna und der Onkel die Nachrichten von Radio Hilversum. Manchmal durfte Max mithören. Immer beunruhigender wurden die Meldungen. Das Elsass und die Tschechei waren von Deutschland besetzt und ins Reich «heimgeholt» worden.

      1937, an einem Spätsommertag: Max war mit seinem Onkel auf dem Feld beim Kartoffelgraben, als der Dorfpolizist auf dem Feld erschien. Er überreichte dem Onkel eine Verfügung der Behörde, die besagte, dass der Schweizer Bürger Max das Land innerhalb von zehn Tagen zu verlassen habe.

      Davon wollte der Onkel nichts wissen und beschimpfte den Überbringer der Verfügung. Es sei nicht das einzige derartige Schreiben, das er in diesen Tagen zustelle, gab ihm der Polizist gelassen zurück.

      Seit Max in Holland bei seinen Verwandten lebte, hatte er keine Kontakte mit Schweizer Behörden. Nun musste er seinen Onkel zum Schweizer Konsulat begleiten. Mit dem Fahrrad fuhren sie zum Bahnhof nach Utrecht und weiter per Bahn nach Den Haag. Die grosse, lebhafte Stadt mit Autoverkehr und Strassenbahnen beeindruckten das Landei­ Max. Erstmals war er in einer Grossstadt. Immer wieder blieb er hinter dem voraneilenden Onkel zurück. Die hellen Schaufenster der Geschäfte weckten seine Neugier und liessen ihn staunen. Doch den Onkel trieb es vorwärts zum Konsulat.

      Nach über einer Stunde des Wartens im Vorzimmer empfing der ältere, wohlgenährte Konsul die beiden Besucher. An der Kleidung, die die beiden trugen, erriet er, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehörten. Bevor sich der Onkel über die von den holländischen Behörden erlassene Verfügung beschweren konnte, musste er sich vom Konsul eine scharfe Rüge anhören. Sieben Jahre habe er sich nicht gemeldet. Auf Briefe und Ermahnungen wegen der ausbleibenden Berichte über den aus der Schweiz aufgenommenen Jungen habe er nie geantwortet. Es scheine, dass er nicht wahrhaben wolle, dass der Junge ihm und seiner Frau zur Obhut und nicht als ihr Eigentum überlassen worden war. Mit richtiger Führung sei Max nun in einem Alter, in dem er auf eigenen Beinen stehen könne. Zudem werde Max militärdienstpflichtig, ein weiterer Grund, an die Heimkehr in die Schweiz zu denken. Unter dem Protest des Onkels übergab ihm der Konsul einen Notpass und eine Fahrkarte von Utrecht nach Basel. Er habe den Zug, der in vier Tagen fahre, zu nehmen. In Basel solle er sich bei der Grenzpolizei melden, die würden für seine Weiterfahrt besorgt sein.

      Der Onkel schaute den Konsul mit kalten, strafenden Augen entrüstet an. Als friedliebender Täufer durfte er seine Wut und Verachtung nicht offen zeigen.

      «Warum», fragte er, «sollten wir Ihren Behörden über das Leben des Jungen berichten? In unserer Gemeinschaft ist alles getan worden, um aus dem Jungen einen gläubigen, unserer Gemeinschaft dienenden Menschen zu machen. Jetzt, wo bald die Zeit kommt, in der er sich den Schriften unseres Herrn unterordnet und sich taufen lassen wird, soll er wegziehen?»

      Sollte der junge Mann dieser Glaubenslehre folgen wollen, könne er das auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz tun, gab ihm der Konsul zu verstehen. Sicher habe seine Frau genügend Kontakte zu Täufergemeinden in der Schweiz. Dagegenzuhalten, fehlten dem Onkel die Argumente. Grusslos verliessen die beiden das Konsulat und machten sich auf den Weg zurück zum Bahnhof.

      Seine Freude über diese obrigkeitliche Verfügung durfte Max nicht offen zeigen. Endlich ausbrechen aus der Familie, ausbrechen aus der freudlosen Gemeinschaft. Sein Leben selbst bestimmen. Bis zur Abfahrt in die Schweiz musste er versuchen, vordergründig die Sorgen der Täufer um seine Zukunft ohne den Schutz der Gemeinschaft zu teilen. Für die Rückreise waren keine grossen Vorbereitungen zu tätigen. Seine Habseligkeiten fanden Platz in einer etwas grösseren Schachtel als der, mit der er sieben Jahre zuvor angereist war. Der Abschied fiel kühl aus. Tante Anna ermahnte ihn zur Dankbarkeit für die Aufnahme bei ihr und überreichte ihm die Adresse der Täufergemeinde,