Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
Скачать книгу
ging zurück in die Küche. Alle starrten sie an. «Was ist mit Mutter?», fragte Max. «Der Doktor muss sofort geholt werden, Mutter erstickt sonst», schrie Elsi aufgeregt ihren Vater an. Albert, der noch Minuten zuvor keinen guten Faden an seiner Familie gelassen hatte, erkannte mit einem Schlag, dass er, sollte Linda sterben, seinen Hof nicht mehr weiterbewirtschaften könnte. Die wichtigste Arbeitskraft würde fehlen. Wenn es denn sein müsse, solle Max ins Städtchen rennen und den Arzt holen. Max war im Nu auf den Beinen, schlüpfte in seine ausgetretenen Holzschuhe und rannte den steilen Weg hinunter ins Städtchen. Seine Furcht, in der Dunkelheit durch den Wald zu gehen, war verflogen. Keuchend und ausser Atem nahm er die kurze Treppe hoch zum Haus des Doktors. Stürmisch läutete er an der Türglocke. Die Frau des alten Doktors öffnete. Eine Frau, die selten unter den Leuten zu sehen war. Anders als ihr Mann und ihr Sohn galt sie als gütig, denn sie wusste um die Leiden der Menschen. «Der Doktor muss sofort zu meiner Mutter kommen», brachte Max hervor. Was ihr den fehle, wollte sie wissen. Er wisse es nicht, seine Schwester habe gesagt, dass alles blutig sei und die Mutter keine Luft bekomme.

      Er solle unter der Tür warten, sagte die Frau, bevor sie sich ins Innere des Hauses begab. Ihr Mann und der Sohn waren im Lesezimmer und unterhielten sich über Probleme in der Fabrik. Der junge Stoll sei hier, unterbrach die Doktorsfrau das Gespräch, seine Mutter liege in ihrem Blut. Ihr Sohn begann zu berichten: Die Frau sei kürzlich in seiner Sprechstunde gewesen, er frage sich, weshalb schon schwer kranke Frauen noch schwanger werden müssten. Die Stoll müsste mit ihrer Tuberkulose in eine Kur fahren. Dazu fehle dem Stoll aber das Geld und die Gemeinde sollte mit solchen Kuren nicht belastet werden.

      «Darüber werden wir reden, wenn du wieder vom Besuch bei Frau Stoll zurück bist», gab ihm seine Mutter resolut zu verstehen. «Deine ethische Haltung entspricht nicht der eines Arztes und auch nicht meinem Verständnis als Arztfrau. Den kleinen Jungen, der mitten in der Nacht den langen Weg vom Hof zu uns gerannt ist und jetzt vor der Haustür wartet, lässt du in deinem Wagen mitfahren.»

      Mürrisch zog Dr. Baldinger eine Jacke an, nahm seinen Arztkoffer und begab sich nach draussen. Widerwillig forderte er Max auf, sich auf den Hintersitz seines Lancias zu setzen. Nie zuvor war Max mit einem Automobil mitgefahren.

      Der Doktor ahnte, was ihn erwartete. Nur ungern machte er seine Visiten auf den Höfen. Zu offensichtlich waren die Unterschiede zu seinen Lebensumständen in der Villa, in der er geboren worden und aufgewachsen war und wo Dienstboten und eine Köchin für das Wohl der Herrschaften sorgten. Die Nöte der Leute im Städtchen und die der Bauern verstand er nicht. «Wenn die fleissiger wären, die Wirtshäuser meiden und ihre Kinderschar geringer halten würden, müssten auch sie zu Wohlstand und Reichtum kommen», pflegte er zu dozieren. Das Studium zum Arzt hatte er nicht aus Berufung ergriffen. Vielmehr hatte ihn sein Vater dazu gedrängt. Aus der Tätigkeit als Arzt und Inhaber der einzigen Fabrik im Städtchen ergaben sich erhebliche Vorteile. Die Kenntnisse der intimsten Dinge seiner Patienten nützten ihm als Verwaltungsratspräsident der Firma. Der Umstand, dass er in der Fabrik nicht operativ tätig war, liess ihn im Hintergrund die Fäden ziehen und seine Leute wie Marionetten steuern. Baldinger hatte die Vorteile dieser Kombination erkannt. Wenn schon die Fäden ziehen, dann wollte er das konsequent tun. Als Gemeinderat und künftiger Gemeindevorsteher.

      Der Wagen holperte knatternd über den ungepflegten Weg hinauf zu Alberts Hof. Elsi hatte die Scheinwerfer des langsam die kurvenreiche Strasse herankriechenden Autos gesehen und erwartete den Doktor vor dem Haus. Der bemühte sich, beim Aussteigen seine Schuhe vor dem Schmutz auf dem Vorplatz zu schützen. Mit seiner Tasche in der Hand folgte er Elsi ins Haus.

      Max hatte auf der ganzen Fahrt mucksmäuschenstill auf dem Hintersitz des Autos gesessen. Wie der Doktor mit den Füssen auf die Pedale drückte, mit seiner rechten Hand den Schalthebel bediente und dazu noch steuerte, hatte ihn erstaunt. Von der Mechanik und der Funktionsweise eines Autos hatte er keine Ahnung. Seinem Bruder Ruedi erzählte er von der Fahrt und den Fähigkeiten des Doktors, der die komplizierte Mechanik des Fahrzeugs spielend beherrsche. Das wolle er auch einmal können, gab er seinem Bruder zu verstehen. In seiner Bewunderung hatte er die Sorgen um seine Mutter ganz vergessen.

      Hinter Elsi trat der Doktor in die Stube, in der Linda auf einer Liege lag. Während sie auf ihn gewartet hatten, hatte Elsi ihre Mutter gewaschen und ihr ein frisches Nachthemd angezogen. In einem Becken lag die blutige Frühgeburt.

      «Das musste ja so kommen», waren die ersten Worte, die der Arzt an Linda richtete. Er schickte Elsi aus der Stube. Mit einem Blick auf die Frühgeburt sagte er Linda, dass sie wieder Zwillinge erwartet hatte. Es sei wohl das Beste für sie, dass sie die Kinder verloren habe. Darob erschrak Linda, denn sie erinnerte sich an die Andeutungen, die er Monate zuvor in seiner Praxis gemacht hatte. Bemerkungen, die sie damals nicht verstanden hatte. Der Doktor schaute auf die blutigen Tücher, die sie beim Husten vor ihren Mund hielt.

      «Sie sind schwer krank und sollten zur Kur nach Davos fahren, dort besteht eine geringe Chance, dass die Tuberkulose geheilt werden kann. Ich werde mit Ihrem Mann darüber reden», brummte der Doktor leise und mit wenig Begeisterung. Linda hatte geahnt, wie es um sie stand, die Schwere ihrer Krankheit war ihr nicht neu. Erinnerungen an ihre Kindheit stiegen in ihr auf. Sie dachte daran, wie ihre eigene Mutter jämmerlich hatte sterben müssen. Mit schwacher Stimme, doch klar und bestimmt, sagte sie zum Arzt: «Reden Sie nicht mit Albert, wir könnten eine Kur unmöglich bezahlen. Albert würde mich ohnehin niemals gehen lassen, und wer würde zu den Kindern schauen?» Der Doktor antwortete: «Wenn Sie nicht zu Kur gehen und wieder gesund werden, wird bald die Zeit kommen, wo Sie gar nicht mehr zu den Kindern schauen können. Sie werden eine Last für die Familie sein und bald sterben.»

      Elsi, die er gerufen hatte, gab er ein Pulver. Dies komme aus England und heisse Stevens Cure. Davon solle sie der Mutter drei Mal täglich einen Esslöffel mit etwas Wasser verabreichen. Er könne Linda aber nur helfen, wenn sie zur Kur gehe, und er werde in einer Woche wiederkommen. So lange solle sie das Bett hüten. Er sagte es und wusste, dass Linda spätestens am nächsten Morgen wieder in der Küche stehen würde. Beim Hinausgehen fragte er Elsi nach ihrem Vater. Er wollte ihn von der Schwere der Krankheit seiner Frau unterrichten und ihm beibringen, dass er Linda schonen müsse. Aber Albert hatte sich, als er das Auto des Doktors hörte, davongeschlichen. Dem Arzt wollte er nicht begegnen. Zu gross war sein verletzter Stolz. Den Realitäten verschloss er sich. Er lag auf den Strohballen in der Scheune und wartete auf die Abfahrt des Arztes.

      Kaum war er weg, kroch Albert aus seinem Versteck. Noch Stroh in den Haaren, trat er in die Küche. Ob der Wichtigtuer endlich weg sei, polterte er. Was mit der Mutter sei, er wolle anderntags emden, und dazu sei jede Hand vonnöten. Elsi hatte an der Tür gehorcht, als der Doktor mit Linda gesprochen hatte. Jetzt begehrte sie auf. Die Mutter werde nicht helfen können, sie sei schwer krank, es wäre das Beste, wenn sie zur Kur gehen würde, habe der Doktor gesagt. Sie habe von ihm ein Pulver erhalten, das sie der Mutter geben müsse.

      Die Frühgeburt hatte Elsi schon weggebracht. Wenn der Vater mit der Milch ins Städtchen fuhr, wollte sie diese hinter dem Haus vergraben. Der Vater sollte davon nichts erfahren.

      Albert wurde still. Wenn es wirklich so war, wie Elsi berichtete; wenn Lindas Krankheit derart schwer war, kämen harte Zeiten auf ihn zu. Ohne Linda würde er den Hof nicht halten können.

      Wie sollte er eine Kur für Linda bezahlen? Er wusste schon jetzt nicht mehr, wie er den nächstens fälligen Zins bezahlen sollte. Und selbst wenn er die Mittel für eine Kur hätte, die Kur keine Heilung brächte, wenn Linda trotzdem sterben würde, dann wäre es hinausgeworfenes Geld. Der Geizhals in ihm gewann Oberhand. «Abwarten», dachte er und sagte: «Wenn Mutter mir beim Emden nicht helfen kann, werden du und die beiden Buben morgen nicht zur Schule gehen, ihr werdet mir helfen.»

      Es folgte ein Jahr der Hoffnungslosigkeit. Lindas Körper zerfiel zusehends, die immer häufiger wiederkehrenden Hustenanfälle waren blutig und schleimig. Über die Hälfte ihrer Zeit verbrachte Linda im Bett. Vom Arzt, der sie regelmässig besuchte, erhielt sie das neue Medikament, von dem sich die Mediziner Linderung und Heilung versprachen. Der stete Verlust ihre Kräfte machte Linda jedoch bewusst, dass ihr Leben zu Ende ging. Sie sorgte sich um ihre Kinder, die nach ihrem Tod mutterlos aufwachsen müssten. Den Doktor bat sie, seine Besuche einzuschränken.