Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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seinem Hof zurück.

      Linda hatte es geahnt: Jedes Mal, wenn Albert nicht zeitig zum Melken und zur Besorgung der Tiere von einem Gang ins Städtchen zurückgekehrt war, hatte es Feuer im Dach gegeben. Zusammen mit Elsi hatte sie dann den Stall gemacht, die Kühe gemolken und gefüttert. Elsi hatte jeweils das Pferd vor den leichten Karren gespannt und die Milch zur Sammelstelle gebracht. An solchen Tagen waren sie stumm ihrer Arbeit nachgegangen, wohl wissend, dass das Donnerwetter erst mit Alberts Heimkehr ausbrechen würde.

      Auch an diesem Abend hatten sie leiden müssen. Linda und Elsi hatten die ganze, in Albert aufgestaute Wut zu spüren bekommen. Er hatte sie mit Fäusten geschlagen, mit seinen schweren Nagelschuhen getreten. Selbst die Zwillinge, die vom Lärm in der Küche aufgewacht waren und weinend unter der Küchentür standen und zuschauen mussten, wie Linda geschlagen wurde, hatten ihre Prügel bekommen. Nach der Gewaltorgie hatte sich Albert verzogen und die Nacht auf dem Heustock verbracht.

      In den gleichen Kleidern, in denen er schon tags zuvor unterwegs gewesen war und die Nacht verbracht hatte, war er am folgenden Morgen zum Frühstück gekommen. Ungewaschen hatte er sich an den Küchentisch gesetzt und die Rösti, die Linda jeden Morgen frisch zubereitete, verschlungen. Kein Wort des Bedauerns, keine Entschuldigung war von ihm zu hören. Bevor er die Küche wieder verliess, brummte er noch, dass Elsi an diesem Tag nicht zur Schule gehen dürfe. Er wollte nicht, dass sie irgendjemandem erklären musste, woher die blauen Flecken auf ihren Oberarmen stammten. Das blaue Auge von Linda hatte ihn nicht interessiert, in den darauffolgenden Tagen war kein Gang ins Städtchen vorgesehen gewesen. Die Gefahr, dass eine aussenstehende Person Linda mit ihrem malträtierten Gesicht hätte sehen können, war gering. Die beiden Buben wussten wohl, was für Folgen sie zu gewärtigen hätten, wenn sie im Städtchen vom Verhalten ihres Vaters berichteten.

      Zwei Wochen nach dem Vorfall auf der Gemeinde hatte der Weibel eine Vorladung des Bezirksgerichts gebracht. Albert war vom Doktor wegen Drohungen gegen eine Amtsperson verklagt worden. Mit der Peitsche in der Hand hatte Albert den Weibel vom Hof gejagt. Die Vorladung landete im Herdfeuer.

      Zwei Dickköpfe waren in einen Streit verwickelt. Einer der beiden konnte sich die Starrköpfigkeit leisten, der andere war ein hoch verschuldetes Bäuerlein auf einem kleinen Hof in den Jurahöhen. Keiner im Ort hätte darauf gewettet, dass Albert vor Gericht zu seinem Recht kommen würde. Nicht etwa, weil es niemanden gegeben hätte, der in dieser Angelegenheit auf Alberts Seite stand. Diejenigen, die in der Fabrik angestellt waren, kannten die rechthaberische Art des jungen Chefs. Doch nicht einmal hinter vorgehaltener Hand hätten sich die Leute getraut, sich zum Fall zu äussern.

      Den Bescheid des Bezirksgerichts, das ohne Albert getagt hatte, wurde ihm vom Weibel in Begleitung des Ortspolizisten überbracht. Der Statthalter hatte ihm eine Busse von fünfzehn Franken aufgebrummt. Im Begleitbrief hatte er Albert aufgefordert, die Busse innerhalb von dreissig Tagen zu begleichen, ansonsten würde er als Vorsteher der Milchgenossenschaft dafür sorgen, dass der fällige Betrag bei der nächsten Milchrechnung abgezogen würde.

      Die Kumulation von Ämtern und die Vermischung von Rechtsansprüchen waren im abgelegenen Städtchen bekannt. Niemand wagte aufzubegehren und diese unhaltbaren Zustände öffentlich anzuprangern.

      Die Leidtragende des Verdikts war einmal mehr Alberts Familie gewesen. Alle hatten sie etwas abbekommen, selbst die Zwillinge hatten die aus einer alten Leiter stammende Sprosse, den gefürchteten Seigel, zu spüren bekommen und mussten ohne Essen zu Bett. Länger als eine Woche hatte Albert danach auf dem Heustock übernachtet. Sein Kommen kündigte jeweils der ihn begleitende Gestank an.

      Seit diesem Zusammenstoss und der ungerecht ausgesprochenen Strafe war Linda, wenn sie von ihren Arztbesuchen zurückkam, jeweils schon von vornherein in einer verlorenen Stellung. Was immer der Arzt bei Linda feststellte und befand, in Alberts Augen war «dieser Wichtigtuer und Blödling» unfähig und seine Therapien nutzlos. Und die Tatsache, dass der Doktor von Linda kein Geld für seine Behandlungen annehmen wollte, machte Albert nur noch misstrauischer.

      Eine Woche nach Lindas letztem Arztbesuch hatte es noch keine Gelegenheit gegeben, Albert über die Schwangerschaft aufzuklären. Linda ging es schlecht. Sie schrieb ihr Unwohlsein der über dem Tal liegenden feuchten Sommerhitze und den anstrengenden Arbeiten auf dem Hof zu.

      Am ersten Sonntag im August musste Linda erstmals seit Langem erbrechen. Im Erbrochenen war Blut.

      In den folgenden Wochen magerte die schon immer schlanke Linda zusehends ab. Das Wenige, das sie appetitlos zu sich nahm, erbrach sie kurz nach dem Essen. Schwach war sie geworden. Ihr Husten wurde stärker, immer öfter war Blut in ihrem Ausfluss. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte sie Elsi von ihrer Schwangerschaft erzählt. Elsi ahnte, dass ihre Mutter sehr krank, gar unheilbar krank war. Sie malte sich aus, was auf sie zukommen würde, wenn die Mutter nach der Geburt des Kindes sterben würde. Sie müsste dann die ganze, schwere Last auf ihren Schultern tragen. Sie würde bei Vaters jähzornigen Wutausbrüchen der Prellbock sein. Nebst dem Neugeborenen müsste sie auch die Zwillinge versorgen. Ihre Pläne, im «Leuen» im Nachbardorf eine Lehre als Köchin zu machen, müsste sie begraben. Der Fluch, die ganze Verantwortung aufgehalst zu bekommen, die Perspektivlosigkeit ihrer Zukunft, liessen sie verbittert und mürrisch werden.

      Auch die Zwillinge fühlten, dass es der Mutter sehr schlecht ging. Die ganze Schwere der Krankheit und den damit möglichen Konsequenzen konnten sie sich aber nicht vorstellen. Elsi und die Mutter versuchten, die Krankheit so gut wie möglich zu vertuschen. Kündigte sich ein Hustenanfall an, schickten sie die beiden Buben unter einem Vorwand aus dem Haus. Albert sah sehr wohl, dass Linda litt. Er hatte zufällig auch das Blut, das sie hustete, gesehen. Sie solle nur noch häufiger zum Doktor gehen, der mache sie sowieso noch kranker, als sie schon sei, schleuderte er ihr ins Gesicht, als sie eines Abends im Stall zusammengebrochen war.

      Wie jeden Tag hatte sie die gereinigten Milchgeschirre gebracht. Albert hatte die Mutter auf dem Stallboden liegen gelassen. Elsi musste ihr helfen, aufzustehen und sie in die Küche begleiten. Nachdem Albert von der Milchsammelstelle zurückgekehrt war, schrie er Elsi wutentbrannt an. Es sei jetzt an ihnen zu beraten, wer von ihnen künftig für das Milchgeschirr zuständig sei. Weil sie wusste, dass es Ärger gab, wenn das Essen nicht bereitstand, hatte Elsi die Bratpfanne mit der Rösti auf den Küchentisch gestellt. Linda hatte sich in der Stube hingelegt.

      Bei Tisch traute sich keines der Kinder zu reden. Sie kannten ihren Vater; ein falsches Wort, und Albert explodierte. Einzig das Knistern des Feuers im Herd war zu hören. Stumm sassen die Kinder auf den Bänken am grossen Holztisch und starrten auf einen imaginären Punkt an der Wand. Elsi legte ein weiteres Scheit nach. Sie brauchte für den Abwasch warmes Wasser. Auch wollte sie die blutige Wäsche ihrer Mutter waschen. Ganz in seiner Bosheit verhaftet, begann Albert zu gifteln: «So ist gut leben, einfach gedankenlos Holz ins Feuer legen und abbrennen zu lassen. Wisst ihr eigentlich, wie im Winter das Holz geschlagen wird, wie es mühsam nach Haus geschleift, zersägt und gespalten werden muss? Und wer ist es, der das alles tut? Wer sorgt dafür, dass ihr das Holz einfach von der Beige holen könnt, das ihr dann hirnlos, wie ihr seid, im Herd verbrennt? Ich, euer Vater, bin es, ich bin es, der täglich für euch schuftet, sich abrackert, damit ihr euch ein schönes Leben machen könnt. Ihr alle geniesst es, doch keiner von euch schätzt meine Plackerei. Auch eure ach so arme Mutter lebt von meiner Arbeit.»

      Nichts konnte ihn jetzt noch halten, jedem am Tisch machte er derbe Vorwürfe. Keiner traute sich, nur einen Mucks zu machen. Vaters Hand war gefürchtet und der Seigel nicht weit.

      Schon während Vaters Monolog hatte Elsi ein Stöhnen gehört. Doch um aufzustehen und zur Mutter zu schauen fehlte ihr der Mut. Erst ein lauter Schrei liess sie die Angst vor dem Vater vergessen und von der Bank aufspringen. Ohne einen Blick zum Vater eilte sie in die Stube. Die Mutter hielt sich mit beiden Händen den Bauch und wimmerte. «Elsi, ich habe das Kind verloren.»

      Linda kannte diesen Schmerz. Seit der Heirat mit Albert hatte sie bereits vier Fehlgeburten erlitten. Der Schmerz war diesmal jedoch grösser als je zuvor. Sie keuchte auf der Liege und rang nach Luft. Die Liege war blutbefleckt von der Frühgeburt, ihre Kleider blutig vom Husten. Für die erst vierzehnjährige Elsi ein schrecklicher Anblick.

      «Elsi,