Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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Medikamente erhoben.

      Er bezifferte die Summe und fragte Albert, wie er gedenke, die Rechnung zu bezahlen. Zur Säule erstarrt, begriff Albert, dass er nie im Leben diese Summe würde aufbringen können. Sein Hof war zu hoch verschuldet, als dass er diesen noch zusätzlich belehnen konnte. Er zischte den Doktor an: «Jetzt hast du Gauner, was du schon immer geplant hast.» Er solle sich benehmen, sonst rufe er den Polizisten, mahnte der Gemeindeschreiber und verlas den vorbereiteten Beschluss:

      Die bestehenden Schulden auf dem Hof von Albert Stoll erhöhen sich um den Betrag der Rechnung des Doktors. Damit übersteigen die Schulden den Wert des Hofes. Sollte der Schuldner die Rechnung des Doktors nicht binnen dreissig Tagen begleichen, wird der Hof mit der ganzen Fahrhabe versteigert. In Anbetracht des tragischen Todes der Ehefrau Linda und den dadurch zu Halbwaisen gewordenen Kindern macht der Doktor wohlwollend eine grosszügige Geste.

      Das Angebot, das er verlesen werde, gelte jedoch nur, wenn Albert diesem innerhalb von zehn Minuten nach dem Verlesen zustimme. Das Angebot des Doktors laute wie folgt:

      Der Gläubiger Dr. Baldinger kauft den Hof zum Preis der heute auf dem Hof lastenden Schuld. Er verzichtet auf die Geltendmachung von Ansprüchen, entstanden aus ärztlichen Leistungen zugunsten der verstorbenen Linda Stoll. Die Gemeinde bietet Albert Stoll die Stelle eines Wegmachers und Totengräbers an. Die Vormundschaft wird innerhalb der kommenden vier Wochen über eine Fremdplatzierung der beiden dreizehnjährigen Buben befinden. Die Tochter Elsi kann über ihre Zukunft mitentscheiden.

      Albert hatte verstanden. Die Rache des Doktors war angekommen. Er musste büssen für sein Aufbegehren gegen den Landkauf und das von ihm verweigerte Wegrecht. Kurz bevor er zu explodieren drohte, verliess er den Raum. Auf der Wartebank im Treppenhaus sitzend, stierte er bewegungslos auf den abgetretenen Steinboden. Er beobachtete die teilweise ausgebrochenen Fugen zwischen den Steinplatten. Sah die abgesplitterten Ecken der Schiefersteine und verfolgte die in den Platten sichtbaren Venen, die am Ende der Platten rücksichtslos getrennt worden waren und an der Folgeplatte keine Fortsetzung fanden.

      «Sogar die harten Steine haben die Leute nach ihrem Willen zerschnitten. Wie soll sich ein Mensch, der weich und verletzlicher ist als hartes Gestein, gegen die Stärke der Mächtigen und der Behörden wehren. Wo bleibt eines armen Mannes Würde? Wie soll sich jemand wehren, der keine Freunde hat?» Keinen Gedanken verlor er über eigene Fehler, über die Gründe, warum er keine Freunde hatte. Selbstkritik blieb ihm fremd.

      Trotz der Empörung erkannte er seine und die für die Kinder aussichtslose Lage, er sah keinen anderen Weg, den er hätte präsentieren können. Es wurde ihm bewusst, dass er weder die notwendigen finanziellen Mittel aufbringen konnte, noch in der Lage war, den Hof ohne fremde Hilfe weiter zu bewirtschaften. Die Einsicht schmerzte, aber es blieb ihm kein anderer Weg, er musste das Angebot annehmen. Auf seinen Hof verzichten und in den Dienst der Gemeinde treten!

      Geknickt, mit hängendem Kopf, ging er zurück in den Ratssaal. Er sei einverstanden mit dem Vorschlag, sein einziger Wunsch sei, dass seine beiden Buben nicht bei fremden Leuten aufwachsen müssten.

      Erst spät in der Nacht kehrte Albert im Vollrausch auf den Hof zurück. Auch am Tag danach erfuhren Elsi und die Zwillinge nichts von dem, was vorgefallen war. Nichts darüber, dass sie in Kürze den Hof verlassen mussten, dass die Gemeinde eine Familie suchte, in der die Buben künftig leben könnten.

      Unter der Leitung des Pfarrers suchte die Vormundschaft in der Verwandtschaft von Albert und Linda nach Angehörigen. Ein Vetter Alberts anerbot sich, einen der beiden Jungen bei sich aufzunehmen. Beide seien zu viel, habe er doch schon sechs eigene Mäuler zu stopfen. Von Lindas Tod erfahren hatte auch ihre in Holland lebende Schwester Anna. In einem Schreiben an die Gemeinde anerbot sie sich, beide Buben bei sich aufzunehmen und ihnen eine christliche Erziehung angedeihen zu lassen. Es sei ihre Christenpflicht, als engste Verwandte der Verstorbenen für die Erziehung und den Lebensunterhalt der Kinder zu sorgen. Der Gemeinde würden dafür keine Kosten entstehen.

      Der Streit zwischen dem Pfarrer als Vorsteher der Vormundschaftsbehörde und dem Doktor als Gemeindevorsteher war heftig und nachhaltig. «Auf keinen Fall kommen die Buben in die Fänge dieser Sektierer», polterte der Pfarrer. Anders sah es der Doktor, dem die Gemeindekasse näher lag als das Wohl der Kinder. Es sei ein Glücksfall, wenn eine nahe Angehörige sich der Zwillinge annehme. Am Ende gewann der Doktor. Der einzige Kompromiss, zu dem er Hand bot, war, dass nur einer der beiden Buben der Tante in Holland anvertraut wurde. Albert musste eine weitere Demütigung erleiden. Dass ausgerechnet seine von ihm gehasste Schwägerin die Erziehungsgewalt über eines seiner Kinder erhielt, machte ihn wütend und traurig.

      Der Pfarrer, der sich für die Fehler seines Vorgängers öffentlich entschuldigt und Asche auf sein Haupt gestreut hatte, musste büssen. Von den Räten der Kirchgemeinde wurde er gerügt und musste sein Verhalten rechtfertigen. Anders als die Bevölkerung, die dem fortschrittlichen Pfarrer grossen Respekt für seine Offenheit und selbstkritischen Worte zollte, fanden sie sein Verhalten unwürdig. Er sei zu progressiv, ein Theater habe er auf der Kanzel aufgeführt. Und alles wegen der verstorbenen Frau des mit den meisten Gemeindemitgliedern zerstrittenen Stoll. Kurzum, dem Pfarrer wurde nahegelegt, eine neue Wirkungsstätte zu suchen. Ein sich dem Wort der Bibel, an der Frömmigkeit der ernsten, schnörkellosen protestantischen Kirche verpflichteter Pfarrer war bald gefunden und an die Stelle des jungen gesetzt. Man nahm es hin, dass die Zahl der Kirchenbesucher merklich abnahm. Der Versuch eines Pfarrers, der Kälte des Protestantismus etwas mehr Wärme zu verleihen, war an der Sturheit einiger intoleranter, einflussreicher und in der Vergangenheit verhafteten alten Herren gescheitert.

      An einem kalten Novembermorgen brachte der Gemeindeschreiber den kleinen Max nach Basel. Ein Stück Brot und etwas Käse als Proviant und unter dem Arm eine Kartonschachtel mit seinen wenigen Habseligkeiten, stieg Max in Basel in den Zug nach Utrecht. Sein Bruder Ruedi wurde am gleichen Tag vom Vetter seines Vaters abgeholt. Elsi trat auf einem Gutsbetrieb eine Lehre als Köchin an.

      Nur wenige Möbelstücke konnte Albert in die kleine, von der Gemeinde zugewiesene Dreizimmerwohnung mitnehmen. Dr. Baldinger liess den Hof als Gerätehaus umbauen, in die Wohnung kam der Hausgärtner, der alles rund um seine neu gebaute Villa in Ordnung hielt.

      Über sechzehn Stunden dauerte die Eisenbahnfahrt von Basel nach Utrecht. Grosse Traurigkeit hatte Max erfüllt. Sich von seiner Schwester und seinem Bruder zu trennen, war ihm schwergefallen. Drei Tage vor der Abfahrt war der Vater verschwunden, Max hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Einzig das Abenteuer der langen Bahnfahrt milderte seinen Abschiedsschmerz. Der Gemeindeschreiber hatte ihm das Leben in Holland in den schönsten Farben beschrieben. Er sei ihm sogar etwas neidisch, denn er sei selbst noch nie ausserhalb der Landesgrenze gewesen. Während der ganzen Zugfahrt drückte Max kein Auge zu. Er wollte sich nichts entgehen lassen, nichts verpassen. Alles war ihm neu; die Bahnhöfe, wo sich Leute von Freunden und Familie verabschiedeten, andere, vom Zug kommend, empfangen wurden. Ein Treiben, das er sich auf dem einsamen Hof in den Jurahöhen nicht hatte vorstellen können. Dann das Rangieren der Dampfloks, die Pfeiftöne vor der Abfahrt und unterwegs. Dem aufgeweckten Jungen war dies neu und unbekannt.

      Der Zug erreichte Utrecht am frühen Morgen des 10. Novembers 1930. Auf dem Bahnsteig nahmen ihn Tante Anna und ihr Mann in Empfang. Hinter ihnen hertrottend, den Karton mit seinen wenigen Habseligkeiten unter dem Arm, ging’s zum vor dem Bahnhof stehenden leichten Einspänner. Vom Mann wurde er auf den auf der Brücke des Wagens liegenden Strohballen gehievt. Anna und ihr Mann setzten sich auf den Bock, und in leichtem Trab ging’s stadtauswärts. Noch im Stadtgebiet, legte sich Max aufs Stroh und schlief bald ein. Weder die Kälte noch das Rumpeln über die vielen Schlaglöcher hielten ihn vom Schlaf ab. Vor dem Hof des Onkels, wie Max Annas Gatte fortan nennen musste, wurde er von der Tante unsanft geweckt. Während ihr Mann die Pferde versorgte, brachte Anna den schlaftrunkenen Max ins Haus. In der Dunkelheit nahm er kaum etwas von der neuen Umgebung wahr. Tante Anna setzte ihm in der Küche ein Glas mit warmer Milch vor, das er in einem Zug leerte.

      «Max», belehrte ihn seine Tante, «in unserem Haus danken wir immer unserem Schöpfer für alles, was er uns schenkt, nie wieder wirst