Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
Скачать книгу
solle sie sich den Kopf nicht zerbrechen, es werde sich schon finden, waren jeweils die Worte des Doktors. Während all seiner Besuche war Albert für ihn unsichtbar. Wenn er den Motor des Autos hörte, verschwand er auf den Heustock, im Wald oder hatte auf einer entfernten Wiese zu tun.

      Elsi hatte ihre Schulzeit beendet. Sie blieb auf dem Hof und übernahm Lindas Arbeiten. Dazu kam die Pflege der kranken Mutter. Für das junge Mädchen eine schier unlösbare Aufgabe. Kein Tag verging, an dem sie nicht vom Vater beschimpft wurde. Er rügte sie wegen nichtigen Dingen, schalt sie faul und ungeschickt. Nichts konnte sie recht machen, dauernd polterte er und beklagte sein hartes Los. Elsi schwor sich, nach dem voraussehbaren Tod der Mutter vom Hof wegzugehen. Solle der Vater selbst schauen, wie er zurechtkomme.

      So wie es früher ihre Mutter getan hatte, musste Elsi jetzt einmal die Woche ins Städtchen zum Einkaufen. Einen dieser Gänge nutzte Elsi zu einem Besuch beim Pfarrer.

      Von seinen Kindern hatte Albert keines taufen lassen. Weder die Sonntagsschule noch den Konfirmandenunterricht durften sie besuchen. Den Pfarrer kannte Elsi von der obligatorischen Religionsstunde in der Schule. Der junge Pfarrer kannte die Geschichte und die Gründe, weshalb Albert nichts mit der Kirche zu tun haben wollte. Er hatte sich seine eigene Meinung zum Verhalten seines Vorgängers und über die Gründe, die zum Bruch zwischen Kirche und dem Ehepaar Stoll geführt hatten, gemacht. Albert hatte ihm nicht erlaubt, die schwer kranke Linda zu besuchen. Alle Bemühungen um eine Erlaubnis zum Besuch hatten in wüsten Beschimpfungen geendet. Seelenkrämer, Betrüger und Tunichtgut waren die harmloseren Anwürfe, mit denen der Pfarrer vom Hof gejagt worden war. Albert traute keinem Menschen, der Hass zur Institution Kirche hatte seine Hintergründe.

      Zuhinterst in einem engen Krachen im Emmental waren Linda und ihre Schwester geboren und aufgewachsen. Die meisten Bewohner der einsam gelegenen Höfe waren Angehörige der Täufer. In dieser strengen Glaubensgemeinschaft herrschte Zucht und Ordnung. Die täglich eingetrichterten Glaubensgrundsätze zu hinterfragen war ein Sakrileg, das bestraft wurde. Heiraten war nur innerhalb der Gemeinschaft möglich und vom Willen und Einverständnis der Oberen und Älteren abhängig.

      Linda war aus diesem Gefängnis des Denkens ausgebrochen und ohne zu fragen nach Waldenburg gezogen. Als Magd hatte sie sich auf dem Hof von Alberts Eltern verdingt. Ihre Familie hatte sie verstossen und jeden Kontakt abgebrochen. Über unbekannte Kanäle hatte Lindas Vater von ihrer Verlobung mit dem «ungläubigen» jungen Albert erfahren.

      Ihre ältere Schwester Anna hatte sich in ihrer Gemeinschaft als williges, sich den Vorschriften unterziehendes Mitglied hervorgetan. Ein herumreisender Prediger aus Holland fand Gefallen an ihr. Der Rat der Gemeindeältesten verhandelte mit dem Prediger die Heirat mit Anna. Die Prüfungen und Abklärungen der holländischen Gemeinde hatte sie bestanden. Als demütige, sich ihrem Ehemann unterwerfende Frau würde sie die ideale Gattin des Predigers werden. Alles wäre perfekt gewesen, wenn da nicht die Schwester ausgebrochen wäre und mit einem Ungläubigen die Ehe eingehen wollte.

      Der Rat der Ältesten beauftragte Anna und den Gemeinschaftsvorsteher, Linda zu besuchen und wieder zurück auf den rechten Weg zu bringen. Der Besuch auf dem Hof von Alberts Eltern endete handgreiflich. Linda widerstand den zuckersüssen, mit Bibelzitaten geschmückten Aufforderungen zur Rückkehr und schickte die beiden weg. Da begannen die beiden Besucher zu drohen, mit dem Teufel und dem Fegefeuer; die Pest und andere schlimme Krankheiten wünschten sie ihr. Albert, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, verlor die Beherrschung. Mit einem Seigel bewaffnet verprügelte er den Gemeinschaftsvorsteher, der blutend und schnellen Schrittes den Hof verliess. Nicht ohne dabei wüste, aus der Bibel zitierte Flüche auf den Hof und seine Bewohner zu schreien.

      Kurz nach diesem Ereignis wollten Linda und Albert heiraten. Aus seiner fundamental begründeten Überzeugung verweigerte der Pfarrer ihnen die kirchliche Trauung. Linda war ungetauft. Bei den Täufern wäre sie als erwachsene Frau getauft worden. Ohne Taufe keine Ehe. Nach dem Verständnis des Pfarrers hätte Linda während eines Jahres den Konfirmandenunterricht besuchen müssen, um dann anlässlich einer Zeremonie gleichzeitig getauft und konfirmiert zu werden. Das war Linda und Albert zu viel. Sie wollten kein weiteres Jahr unverheiratet bleiben. In dieser Situation war der Bruch mit der Kirche unvermeidlich. Sie blieben ein Paar ohne kirchliche Trauung. Ein Paar, das sich nur vor dem Zivilstandsamt trauen liess, hatte es zuvor im Städtchen Waldenburg noch nie gegeben. Das konnte nicht gut gehen. In der Bibel hatte der Pfarrer am folgenden Sonntag die für sein Predigtthema geeignete Stelle gefunden. Statt Toleranz und Verständnis zum Los der beiden säte er Zwietracht und Ausgrenzung.

      Das Pfarrhaus befand sich in einer hinter hohen Mauern liegenden alten Villa. Verstohlen hatte Elsi das grosse Tor in der Mauer so weit geöffnet, dass sie sich hindurchquälen konnte. Keiner sollte sie sehen, niemand ihrem Vater vom Besuch im Pfarrhaus erzählen. Nach dem Ziehen an der Kordel, die die Hausglocke zum Schellen brachte, öffnete der Pfarrer die Tür und bat Elsi ins Haus. Sie berichte ihm von ihren Ängsten, der Schwere der Krankheit ihrer Mutter. Dass diese bald sterben müsse und sie nicht wisse, was nachher komme und was mit ihr und ihren Brüdern geschähe. Und wie es sei, wenn ihre Mutter als Ungetaufte sterbe. Ob sie ein anständiges Begräbnis bekomme.

      Tief beeindruckt von Elsis Sorgen musste sich der Pfarrer erst sammeln. Er rief seine Frau und bat sie, ihnen Tee und Konfekt zu bringen. Er werde dafür sorgen, dass ihre Mutter ein würdiges Begräbnis erhalte. Eine Totenfeier wie jede andere Person im Städtchen. Sie brauche sich darüber keine Gedanken zu machen.

      Schwieriger werde es, für die beiden Buben eine Familie zu finden, die sie aufnehmen werde. Es könnte so weit kommen, dass sie getrennt, an verschiedenen Orten, aufwachsen müssten. Er werde in der Vormundschaftskommission, der er angehöre, das Problem zur Sprache bringen. Sicher werde eine sachdienliche Lösung gefunden. Ob ihr Vater dannzumal den Vorschlägen der Vormundschaft zustimme, werde sich zeigen. Den Hof würde ihr Vater kaum allein weiter bewirtschaften können. Ob sich jemand finde, der mit dem cholerischen Mann leben wolle, stehe in den Sternen. Auch Elsi benötige von ihrem Vater das Einverständnis, eine Lehre als Köchin anzutreten. Alles werde schwierig werden. Zu hoffen sei, dass nach dem Tod der Mutter ihr Vater eher mit sich reden lassen werde. Im Moment könne er nichts mehr tun als zu versprechen, sich in den kommenden Wochen gründlich mit den zu erwartenden Problemen zu befassen.

      Der von der Wanduhr jede Viertelstunde klingende leise Ton ermahnte Elsi zum Aufbruch. Sie durfte nicht allzu lange wegbleiben, ihr Vater würde sonst nach den Gründen für das Ausbleiben fragen. Beim Pfarrer, der sie bis zum Tor begleitete, bedankte sie sich und eilte den Hügel hoch.

      Keine fünf Wochen später lag Linda an einem Morgen tot in ihrem Bett. Albert verzog sich in eines seiner Verstecke und überliess es Elsi, alles Notwendige zu veranlassen.

      Dem Leichenwagen, der Lindas Sarg zum Friedhof unterhalb des Städtchens fuhr, folgte eine grosse Trauergemeinde. Der Pfarrer hatte sein Versprechen eingehalten. In der Sonntagspredigt redete er über die Schriftgelehrten und Pharisäer, über Besserwisser und Fundamentalisten. Über solche, die lieber ausgrenzen als tolerant leben. Er entschuldigte sich bei Lindas Seele über das Verhalten seines Vorgängers. Auf der Kanzel stehend, schüttete er aus einem Becher Asche auf sein Haupt.

      Albert ging hinter dem Leichenwagen bis zum Friedhof. Während vier Männer den Sarg aus dem Wagen trugen, verschwand er wortlos vom Friedhof.

      Elsi blieb mit ihren Brüdern, bis das Grab zugeschaufelt war und begab sich dann zurück zum Hof, wo sie ihren Vater weinend in der Küche sitzend fand.

      Eine Woche danach überbrachte der Weibel eine Vorladung des Gemeinderats. Widerwillig folgte ihr Albert. Auch er hatte sich Gedanken um die Zukunft seiner Buben gemacht, doch fand er keine ihm zusagende Lösung. Mit einem unguten Gefühl trat er vor den Gemeinderat. Vor den jungen Doktor, der seit ihrem heftigen Zusammenstoss vor einigen Jahren mittlerweile zum Gemeindevorsteher gewählt worden war.

      Vor dem Sitzungszimmer wachte der Dorfpolizist. Er war aufgeboten, um einzugreifen, falls Albert ausfällig werden sollte. Rasch und ohne Umschweife verlas der Gemeindeschreiber den Sachverhalt:

      Alberts Hof sei hoch verschuldet. Nach dem Tod seiner Frau habe der Arzt