Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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Ältesten der Gemeinschaft erhielt er zehn Gulden als Reisegeld. Mit dem Einspänner fuhr ihn der Onkel zum Bahnhof nach Utrecht, wo er Max kurz angebunden verabschiedete und ohne auf den Zug nach Basel zu warten wieder zurückfuhr.

      Die Zeit bis zur Abfahrt nutzte Max auf seine Weise. Bei einem Barbier liess er sich den flaumigen Bart rasieren. In einem Kleiderladen erstand er sich ein buntes Hemd. Das Weisse, das ihn als Täufer kennzeichnete, liess er im Laden zurück. Den Hut, ein weiteres sichtbares Zeichen der Täufer, schenkte er einem Bettler, der vor dem Bahnhof herumlungerte. Bei der Einfahrt des Zuges unterschied ihn sein Äusseres nicht mehr von den anderen mitreisenden Jünglingen.

      Auf der Fahrt nach Basel fand Max erstmals Zeit, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Ohne die alles bestimmende Tante, den Onkel, der all seine Handlungen dem Rat der Ältesten unterstellt hatte. Jetzt lag es an ihm, die Initiative zu ergreifen. Mit nichts als einer Schulbildung in Holland musste er einen Einstieg ins Berufsleben finden. Er würde die meisten von der Lebensgemeinschaft der Täufer eingetrichterten Verhaltensweisen ausblenden und sich den Anforderungen des Lebens stellen müssen. Er wollte erfahren, wie es war, sich ohne schlechtes Gewissen zu vergnügen. Auch wurde er sich bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie man mit dem weiblichen Geschlecht umging. Nach der Ankunft wollte er als Erstes seine Schwester Elsi, seinen Bruder und dann den Vater besuchen. Vor dieser Begegnung fürchtete er sich. War er immer noch so aufbrausend, wie er ihn in Erinnerung hatte? War es nun möglich, mit seinem Vater ein Gespräch von Mann zu Mann zu führen?

      Mit dem ausdrücklichen Hinweis, sich unmittelbar nach der Ankunft in Waldenburg auf der Gemeinde zu melden, hatte ihm ein Grenzbeamter im Bahnhof Basel seine Fahrkarte übergeben.

      «Da kommt er ja, unser Fliegender Holländer», rief der Gemeindeschreiber, als Max sich, wie ihm aufgetragen war, bei ihm meldete. Dass man ihn als Holländer ansprach, konnte er verstehen, aber unter einem «fliegenden Holländer» konnte er sich nichts vorstellen. In der Schule der Täufer waren Themen zur Mystik oder der Musikkunst tabu und schon gar nicht im Lehrplan gewesen. Er hatte anderes Wissen. Zu fast jedem Ereignis kannte er einen passenden Bibelspruch.

      Seit dem Wegzug von seinem Heimatort war der alte Gemeindeschreiber in Pension gegangen. Ein junger, aufgeweckter Mann aus dem Nachbardorf war an seiner Stelle. Er bat Max, sich zu setzen und fragte wissbegierig nach seinen Erlebnissen in Holland. Sein Interesse war echt. Nur selten waren Leute aus seinem Bekanntenkreis ins Ausland gereist. Noch wenigere lebten mehrere Jahre dort. Max erzählte, wie die Holländer und im Besonderen die Täufer lebten, von ihren Gebräuchen und Essgewohnheiten.

      In all den Jahren in Holland hatte Max keine Kontakte zu seiner Schwester, dem Bruder und dem Vater gehabt. Keine Nachricht war zu ihm gelangt. Denn Tante Anna hatte alle an ihn adressierten Briefe ungeöffnet vernichtet. Dies beschäftigte ihn ebenso wie die Frage, was er in naher Zukunft tun werde, ob er eine Arbeit finden oder einen Beruf erlernen könne.

      Der Gemeindeschreiber klärte ihn über die sich ergebenden Fragen auf. Solange er minderjährig sei, bestimme die Gemeinde, was er zu tun habe. Seinem Vater sei das Sorgerecht für ihn und seinen Bruder entzogen worden. Sein Bruder Ruedi lebe nach wie vor als Knecht beim Verwandten auf dessen Bauernhof. Seine Schwester Elsi sei seit bald einem Jahr im Nachbardorf mit einem Lehrer verheiratet. Im gleichen Dorf, aus dem auch er stamme. Er kenne den Lehrer sehr gut, seine Schwester könne stolz sein, einen so tüchtigen Mann gefunden und zu seiner Frau erkoren worden zu sein. Der Vater sei dem Alkohol verfallen. Alle bürgerlichen Rechte habe man ihm entzogen. Er wohne in einer von der Gemeinde zugeteilten, kleinen Dreizimmerwohnung. Als Gemeindearbeiter sei er zuständig für den Unterhalt der Wege auf dem Friedhof und hebe die Gräber aus für verstorbene Mitbürger.

      Man habe für Max eine Lehrstelle im Unternehmen des Doktors gefunden. Allerdings frage er sich jetzt, wo er so vor ihm stehe, ob die von der Behörde getroffene Berufswahl richtig gewesen sei. Er sei klein und schmächtig, magerer als Lehrlinge in seinem Alter. An seinen Händen könne man schon erkennen, dass er auf dem Feld gearbeitet habe, hingegen erwarte er von einem künftigen Schmid eine kräftigere Statur. Den vom Gemeindevorsteher abgesegneten Entscheid zur Berufslehre konnte der Gemeindeschreiber jedoch nicht umstossen. Er solle sich am kommenden Montag beim Portier in der Fabrik melden. Dort würde er zum Personalchef weitergeleitet.

      Die Gemeinde habe schon sehr viel Geld ausgeben müssen für ihn und seine Familie. Er erwarte, dass er dies anerkenne und sich sittlich benehme, mahnte er den verdutzten Max. Er könne in der Wohnung seines Vaters wohnen. Mit dem Lehrlingslohn von fünfundzwanzig Franken könne er für sein Essen und Trinken aufkommen. Jeweils im Frühjahr und im Herbst erhalte er von der Gemeinde dreissig Franken, damit könne er sich Kleider und Schuhe kaufen. Und man erwarte, dass er sich nicht in Wirtshäusern aufhalte und er sich, sollte die Gemeinde dazu aufrufen, zu Fronarbeiten melde.

      Viele sich für zuständig haltende Leute hatten an zu vieles gedacht. Über seinen Kopf hinweg, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, hatten sie über ihn bestimmt. Er wollte weder Schmid werden, noch konnte er sich vorstellen, in der gleichen Wohnung wie sein Vater zu hausen. Was konnte er gegen die Bevormundung tun? Max war bei den Täufern zum Gehorsam erzogen worden. Selbst über scheinbar unwichtige Dinge hatte der Rat der Ältesten entschieden. Aufbegehren oder gar Widerstand leisten führten zu schweren Strafen. Jede und jeder fürchtete die harten Gerichte, die Ermahnungen an einzelne Gemeindemitglieder, die der Prediger vor dem Ende des Sonntagsgottesdienstes verlas. Ein Stigma für alle, die davon betroffen waren. Bedrückt und unschlüssig verliess Max das Gemeindehaus und begab sich zu seinem künftigen Wohnort.

      Es war später Nachmittag, die Fenster der Wohnung geschlossen. Max öffnete die unverriegelte Tür. Fürchterlicher Gestank schlug ihm entgegen. Nie zuvor hatte Max eine derartige Unordnung wie die in den Räumen seines Vaters gesehen. Er ging davon aus, dass der Vater noch bei der Arbeit war und erst gegen Abend nach Hause kam. Er war bestimmt darüber informiert worden, dass sein Sohn aus Holland zurückkehrte.

      Zuerst öffnete Max die vor Schmutz blinden Fenster und liess frische Luft in die Wohnung. Je mehr er sah, umso übler empfand er den desolaten Zustand. Tante Anna hingegen war eine pingelig saubere Frau. Ihr Haus war stets fast klinisch sauber. Wehe dem, der Schmutz hereinbrachte. Selbst ihr Mann, der als Prediger redegewandt und eine hohe Stellung in der Gemeinschaft eingenommen hatte, fürchtete die Schimpftiraden seiner Frau, wenn er das Haus schmutzig betrat. Jedermann hatte seine Schuhe und Arbeitskleider vor dem Eingang auszuziehen und das Haus erst nach gründlichem Händewaschen zu betreten. Und jetzt das! Ungewaschene Leibwäsche, stinkende Socken, das seit Monaten nicht mehr gewechselte Bettzeug schwarz und steif vor Schmutz. In der kleinen Küche lag das wenige Geschirr verschmutzt im Spültrog. Auf der Anrichte standen leere, verkrustete Konservendosen. Im übervollen Abfalleimer «lebte» es. Würmer und Käfer taten sich am Abfall gütlich.

      Max begann in der Küche. Er spülte Geschirr und Pfannen. Richtig sauber wurde keins von beiden, denn es gab weder Abwasch- noch Scheuermittel. Den Lärm, den Max mit seinem Wirken erzeugte, hörte die im oberen Stock wohnhafte Hausbesitzerin. Was sich da unten tue, fragte sie sich und schlurfte die ausgetretene Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Max erschrak beim Anblick der ungepflegten, mit langen, dünnen Haaren unter der Tür stehenden Frau. Er kannte sie aus der Zeit, als er noch im Städtchen zur Schule gegangen war. Mit seinem Zwillingsbruder und anderen Schulkindern waren sie der Frau nachgerannt und hatten sie als Hexe beleidigt. Sie wiederum hatte den Kindern wüste Verwünschungen nachgerufen. Und jetzt stand die Hexe vor ihm. Korpulent, in roten Pluderhosen, einer schmutzigen blauen Bluse, die nackten Füsse in Filzpantoffeln, auffällig geschminkt. Mit ihrer für eine Frau auffällig tiefen Stimme sprach sie Max an: «Du bist es, der da rumort? Eigentlich hatte ich erwartet, dass du mich, wie es sich gehört, erst begrüssen und dann in die Wohnung gehen würdest. Es scheint, dass man in Holland vergessen hat, dir Anstand beizubringen. Nun, wie du siehst, bin ich da und du wirst künftig unter dem gleichen Dach wie die ‹Hexe› leben müssen.» Dabei lachte sie und machte ein freundliches Gesicht. «Komm mit nach oben, junger Mann, ich mache uns erst einen Tee.» Langsam stieg sie die Treppe hoch, der noch etwas verdatterte Max hinterher. Er folgte ihr in die unaufgeräumte, aber saubere Küche. Während sie Wasser aufsetzte, befragte sie ihn über seine Reise. «Du bist sicher müde von der langen Fahrt und solltest dich ausruhen. Etwas Schlaf würde guttun und