Schuldig geboren. Hans Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Schaub
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256864
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hatte sie Furrer hellhörig gemacht. Irgendetwas Ungewöhnliches musste vorgefallen sein. «Frau Waldmeier, mir als Herberts Freund können Sie doch sagen, was los ist», redete er auf sie ein.

      «Ich weiss selbst nicht, was los ist, bitte lassen Sie mir etwas Zeit, ich werde Herbert Ihren Anruf ausrichten. Bitte haben Sie Verständnis, Herr Furrer», sagte Frau Waldmeier und unterbrach die Verbindung.

      Furrer war perplex, noch nie zuvor war Herberts Sekretärin derart kurz angebunden gewesen.

      Noch während des Gesprächs mit Furrer leuchtete am Apparat von Frau Waldmeier das orange Lämpchen auf. Ein Anruf aus der Spedition. Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, schimpfte Lisa, die Gruppenleiterin, drauflos.

      «Warum hast du uns nichts gesagt, warum müssen wir so traurige Dinge über unseren Chef von Kunden erfahren? Es war uns allen peinlich, als der Chef bei seinem Betriebsrundgang zu uns kam.»

      Frau Waldmeier, sonst gar nicht auf den Mund gefallen, war erst mal sprachlos. Die sonst sanfte, wortkarge Lisa war ausser sich. Sie hörte gerade noch, wie Lisa weinte und dann auflegte. Was war geschehen, was gab es, das sie nicht wusste? Erst der Chef, der wie ein Gespenst an ihr vorbeigeschossen war und sich in seinem Büro verschanzt hatte, und dann Lisa, völlig aufgelöst und erregt. Kurz entschlossen begab sie sich zur Spedition. Lisa sass in Tränen aufgelöst auf einem Stuhl und schluchzte. Frau Huber, eine Aushilfe, hielt wortlos Lisas Schulter. Frau Waldmeier versuchte, ihre eigene Aufregung zu dämpfen und trat zu Lisa. «Was ist denn in dich gefahren, dass du mich am Telefon derart beschimpfst? Es gibt da anscheinend etwas, das ich nicht weiss, bitte klär mich auf.»

      Lisa, immer noch beleidigt, stotterte: «Du hättest uns heute früh über den Tod der Mutter unseres Chefs benachrichtigen sollen. Es war für uns alle so peinlich, als wir von Frau Berner von ihrem unerwarteten Tod erfahren mussten. Wir hatten keine Ahnung und es traf uns alle. Anstatt von dir mussten wir es von Frau Berner erfahren.» Sie schluchzte auf. «Und wie sich der Chef verhalten hat, als ihm Frau Berner ihr Beileid aussprach. Ich dachte, der fällt wie ein Baum im Sturm zu Boden, er wirkte geschlagen, es schien, als hätte auch er erst von ihr vom Tod seiner Mutter erfahren.»

      Alle anderen, die sich im Raum aufhielten, blieben stumm, während Lisa sprach, hatten ihre Arbeit unterbrochen und schauten zu Frau Waldmeier. Diese reagierte erst verwirrt und dann ungläubig.

      Lisa könnte recht haben, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Chef hatte heute tatsächlich von Frau Berner zum ersten Mal vom Tod seiner Mutter erfahren. Frau Berner war, ohne es zu wissen, die Überbringerin der traurigen Mitteilung. Eine Nachricht, die auf andere Weise hätte überbracht werden müssen.

      Mit einem Mal verstand Frau Waldmeier das Verhalten von Herbert, auch dass Lisa verärgert und hilflos war, konnte sie nun nachvollziehen. Zu Lisa sagte sie: «Es tut mir wirklich leid, was geschehen ist. Dass unser Chef nichts vom Tod seiner Mutter gewusst hatte, kann gut sein. Wenn du aber denkst, ich hätte dir und allen anderen die Nachricht vorenthalten, liegst du falsch, erst durch dich habe ich davon erfahren. Ich bin genauso schockiert wie ihr alle.»

      Zurück in ihrem Büro, setzte sie sich mit weichen Knien hin. Sie starrte auf das Gemälde einer finnischen Landschaft, das an der Wand hing. Ein Bild, das ihr in hektischen Zeiten half, sich zu beruhigen und abzulenken. Doch an diesem Morgen schien ihr diese Szenerie neblig und trüb, der See und die Bäume verschwommen, ohne Konturen. Was sollte sie als Nächstes tun, wie sich verhalten? Beherzt ins Büro zu Herbert treten oder warten, bis er sich meldete? Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken.

      Sie nahm sich zusammen, griff nach dem Hörer und meldete sich wie gewohnt: «Druckerei Stoll, Rosmarie Waldmeier am Apparat, was kann ich für Sie tun?»

      Ein Kunde wollte sich informieren, wann die bestellten Kataloge von seiner Winterkollektion geliefert würden. Sie fragte in der Abteilung nach und bestätigte dem Kunden die Lieferung in zwei Tagen. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, drehte sie sich auf ihrem Bürostuhl um. Herbert, der während des Gesprächs eingetreten war, hatte sie nicht bemerkt. Kein Schatten, kein Geräusch hatte auf ihn aufmerksam gemacht. Sie erschrak, als er so unerwartet neben ihr stand. Eine kümmerliche Figur, wie ein geschlagener Hund stand er mitten im Raum.

      «Geben Sie mir das Telefonbuch», forderte er mit gebrochener Stimme.

      «Herbert, es tut mir so leid, was passiert ist. Ich erfuhr es erst vor wenigen Minuten von Lisa. Was kann ich für dich tun?», versuchte Frau Waldmeier sich heranzutasten.

      «Nichts und niemand kann jetzt etwas für mich tun, ich will in Ruhe gelassen werden. Geben Sie mir jetzt das Telefonbuch bitte.» Ein letzter Versuch, mit Herbert ins Gespräch zu kommen, war ihr Angebot, für ihn die gewünschte Nummer herauszusuchen. Doch er lehnte ab und zog sich wieder zurück in sein Büro.

      Mit zitternden Fingern suchte Herbert die Telefonnummer seiner Schwester Michele. Vier Jahre zuvor hatte er das letzte Mal mit ihr gesprochen. In seiner privaten Agenda war ihre Adresse und Telefonnummer nicht eingetragen. Alle Kontakte zu seiner jüngeren Schwester hatte er damals abgebrochen. Seither hatte es keine Gründe gegeben, mit ihr zu reden. Sollte sie, seitdem er zuletzt von ihr gehört hatte, nicht umgezogen sein, würde er ihre Nummer finden. Tatsächlich, da stand sie. Wie sollte sie auch umziehen, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte ihr ja damals im Erdgeschoss des Hauses, in dem sie wohnte, ihren Coiffeursalon finanziert.

      Zögerlich wählte Herbert die Nummer seiner Schwester. Eine junge Stimme meldete sich.

      «Rolf Stoll.»

      «Rolf, hier ist Herbert, dein Onkel, bitte ruf deine Mutter ans Telefon.»

      Am anderen Ende der Leitung hörte Herbert, wie sein Neffe nach der Mutter rief. Darauf Micheles Stimme: «Muss das denn jetzt sein, das passt mir gar nicht, warum ruft der mich an, das stinkt mir.» Sie seuftzte: «Wenn es denn sein muss, gib mir den Hörer.»

      «Was ist?», ertönte die eiskalte, schnippische Stimme Micheles.

      «Was ist, wäre eigentlich an mir, zu fragen», begann Herbert. «Was ist mit Mutter?»

      «Hat man dir also erzählt, dass Mutter gestorben ist. War wohl kaum zu vermeiden, dass du davon erfahren würdest.»

      Herbert antwortete: «Ich bitte dich, egal was du von mir hältst, was auch immer vorgefallen ist, deine Mutter war auch meine. Wann und wo starb Mutter, wie ist sie gestorben, warum wurde ich nicht von dir oder von Vater benachrichtigt?»

      «Mutter starb vorgestern im Spital, sie hatte vier Tage zuvor einen Hirnschlag. Vater hat uns ausdrücklich untersagt, dich über den Spitalaufenthalt und den Tod von Mutter zu informieren. Morgen erscheint im Tagblatt die Todesanzeige, darin steht auch, wann und wo die Abdankung stattfindet. Und jetzt muss ich weg, ich habe einen Termin beim Friseur.»

      Ohne ein weiteres Wort hatte Michele die Verbindung abgebrochen, Herbert konnte nur noch den Freiton hören.

      Während des Gesprächs sank Herbert immer tiefer in seinen Sessel. Er weinte. Dass seine Schwester Michele ihre eigene Dummheit durch arrogantes Auftreten überdeckte, war ihm nicht neu. Auch dass sie eine kalte, empfindungslose Person war. Dass sie aber bei einem so traurigen Anlass derart gefühllos handelte, dafür fiel ihm keine Entschuldigung ein.

      Herbert blieb lange in seinem Sessel sitzen. Er beachtete nicht die aufziehenden Wolken, die den Tag verdunkelten. Er überlegte sich, Haneen anzurufen. Mit ihr konnte er über alles reden, immer wenn es galt, ihn aus einer tiefen Niedergeschlagenheit aufzurichten, fand sie die richtigen Worte. Doch Haneen war ja seit einer Woche bei ihrer kranken Mutter im Libanon. Er schob den Gedanken, sie jetzt anzurufen, beiseite. Er würde, wie jeden Abend, von zu Hause aus mit ihr telefonieren.

      Kurz entschlossen nahm Herbert seine Jacke vom Kleiderhaken, sagte zu Frau Waldmeier nur ein knappes «Ich bin dann weg» und ging zielstrebig und auf dem kürzesten Weg zum nahe gelegenen Wald zu einer Lichtung. Schon als Jugendlicher hatte es ihn oft dorthin gezogen. Hier fühlte er sich wohl, hier konnte er entspannen. «Seine» Waldlichtung war ringsum von grossen Findlingen umsäumt. Findlinge, die ein Gletscher vor Jahrmillionen ins Tal getragen und auf seinem Rückzug in die Alpen liegen gelassen hatte. Zu dieser Lichtung