»Ich krieg dich schon noch, kleiner Schisser! Verlass dich drauf!«
Mit diesen Worten folgte er seinem Gefährten, die Tür flog krachend zu.
Jarihm atmete tief aus, und von dem stechenden Schmerz überrascht, auch gleich wieder ein. Seine Lungen brannten, sein Herz raste, und er konnte jeden einzelnen der Schläge hören, als ob jemand auf eine Trommel direkt neben seinem Ohr schlagen würde. Was war hier bitte geschehen? Auf der Suche nach Antworten wanderte sein Blick zu der Schildmaid, welche auch schwer atmete, was allerdings kein Vergleich zu dem war, wie er keuchte und ächzte. Hatte der große Schwertkämpfer ihr nicht gerade noch gedroht? »Was… war das? Warum… wurden wir angegriffen?«, presste er hervor. Das Sprechen bereitete ihm größte Schwierigkeiten, so sehr schrie sein Körper nach Sauerstoff.
»Wir haben jetzt keine Zeit für lange Erklärungen, wir müssen umgehend die Königsstadt verlassen! Sie könnten jederzeit wieder angreifen und das nächste Mal werden sie nicht nur zu zweit sein. Schnapp dir schnell das Nötigste, wir brechen unverzüglich auf.«
Tchiyo verlassen? Er war sein ganzes Leben lang noch nicht außerhalb der Stadt gewesen. Allerdings hatte er bis gerade eben auch noch nie um sein Leben kämpfen müssen. Beim Gedanken an den kleinen Glatzkopf und sein diabolisches Grinsen rann ihm ein Schauer über den Rücken, vor allem wenn er an dessen letzte Worte dachte… Er hatte wohl keine andere Möglichkeit, zumindest vorläufig. Die Tochter des Zujcan-Clans hatte das kostbare Schwert, mit dem sie bis eben gekämpft hatte, gerade in eine der beiden Scheiden gesteckt, die bis vor kurzem ebenfalls gekreuzt an der Wand gehangen hatten. Jarihm beschloss dasselbe zu tun und die Klingen mitzunehmen. In der jetzigen Situation wäre es eine grenzenlose Dummheit, unbewaffnet die Flucht anzutreten. Er sah der Schildmaid nach, die gerade durch die Tür enteilte und lief ihr nach. Er hatte sich zwar eine Nacht mit ihr gewünscht, nach der sie beide verschwitzt und außer Atem waren, aber so hatte er es sich nun wirklich nicht vorgestellt.
Falsche Hoffnung?
Degaar seufzte tief und nahm dabei einen großen Schluck von dem Honigschnaps. Fünf Tage war es nun her, dass Naileen schon wie tot in ihrem Bett lag. Die Ärzte, die sich mittlerweile zu Dutzenden im Schloss tummelten, nannten das einen Tiefschlaf. Erneut nahm er einen Mund voll seines Getränkes. Es brannte seine Kehle hinunter, doch im Vergleich zu dem Schmerz, den er innerlich fühlte, war dies nicht der Rede wert. Das Ganze war absurd. Er war der König! Er befahl die berühmtesten und besten Ärzte des Landes herbei, und alles, was die ihm sagten, war Geduld zu haben. Ganz klar hörte er noch Hergals Worte, einer der Heiler, denen ihr Ruf schon so weit vorauseilte, dass man ihn auch mit dem schnellsten Pferd wohl nicht mehr einholen würde können. »Ihr Körper muss einen harten Kampf gegen diese Krankheit führen und hat sich daher in einen Zustand versetzt, in dem er sich ganz und gar auf seine Genesung konzentrieren kann. Nur die Zeit wird zeigen, wer gewinnen wird, eure Frau oder…«
Den Rest hatte Hergal unausgesprochen gelassen, doch Degaar hatte sehr wohl gewusst, was er gemeint hatte. Wut stieg in ihm auf, und mit einem lauten Krachen schmiss er die Flasche zu Boden. Der flüssige Inhalt ergoss sich über den Boden und rann dabei in die kleinen Spalten zwischen den einzelnen Bodenplatten. Sofort eilten Diener herbei, um das Chaos zu beseitigen. Mit stoischer Ruhe entfernten sie das zerbrochene Glas und putzten danach den Boden, und das nicht zum ersten Mal am heutigen Tage. Doch das war dem König egal. Er war wütend! Wütend auf diese ganzen Wichtigtuer, die nichts taten außer Blutegel an seine Frau anzusetzen, ihr kalte Wickel auf den Kopf zu legen und ihr irgendwelche Stärkungstinkturen einzuflößen. Wenn er so eine Behandlung gewollt hätte, hätte er auch weiterhin den Hofarzt sein Werk verrichten lassen können und müsste diesen Aasfressern nicht haufenweise Goldstücke in den Rachen werfen. Er war wütend auf die verdammte Krankheit, die seine Geliebte in einer erbitterten Schlacht im Land der Träume festhielt. Und Naileen kämpfte wacker, das konnte er an ihren unruhig flackernden Augen, an den Fieberkrämpfen und an ihren Schweißausbrüchen sehen. Und er war auch wütend auf sich selbst. Hätte er in dieser schicksalhaften Nacht nicht zu viel getrunken, hätte er wohl noch bemerkt, dass mit seiner Gattin etwas nicht stimmte. Er hatte Hergal vor ein paar Tagen zur Seite genommen, und ihn gefragt, ob man vielleicht etwas für seine Frau hätte tun können, wenn man sie früher behandeln hätte können. Der Heiler hatte kurz überlegt und dann gemeint, dass man das generell nicht wissen könne. Aber ihre Chancen wären wahrscheinlich besser gewesen, da seine Kräftigungstinkturen am besten wirkten, wenn sie unverzüglich nach Ausbruch der Krankheit eingenommen wurden. Daraufhin hatte sich Degaar zurückgezogen und begonnen, sich dem Alkohol zuzuwenden. Er trank normalerweise nicht viel, aber in diesen schweren Stunden war ihm der Rausch lieber als nüchtern zu sein. Da erinnerte er sich nicht mehr so genau daran, dass es sein Fehler wäre, falls seine Frau tatsächlich nie wieder erwachen würde. Er schluckte bitter. Sollte wirklich das Undenkbare eintreten… er wusste nicht, ob er dann noch weiterleben wollen würde. Naileen war sein Stern in der dunklen Nacht, der einzige, der ihm nach dem Tod seines Vaters noch verblieben war. Die neue Flasche Wein, die für ihn geöffnet worden war, sang bereits ihren Sirenengesang, doch etwas Gesellschaft könnte er trotzdem vertragen. Aber diese verdammten Ärzte konnte er schon nicht mehr sehen, und Gespräche mit seinen sich immer wieder abwechselnden Leibwachen wollte er keine führen. Seine Fürsten hatte er am zweiten Tag von Naileens Erkrankung nach Hause geschickt. Sie hatten zwar protestiert, doch er hatte gerade keinen Sinn für die Politik, mit der sie ihn immer wieder belästigt hatten. Und so waren sie allesamt, zusammen mit ihren Frauen, welche bis dahin noch an Naileens Seite gewacht hatten, wieder in ihre eigenen Städte zurück gereist. Seitdem wachte Naileens Dienerin Ruika unermüdlich an der Seite der Königin. Nein, er brauchte jemanden, mit dem er sich über Belangloses unterhalten konnte, der aber nicht so langweilig war, dass seine Gedanken erneut zurück zu seiner Frau schweifen würden. Noch während er dies dachte, geschah genau das. Seine Naileen, unschuldig, zärtlich, witzig – und jetzt dem Tode näher als dem Leben. Es formte sich ein großer, unangenehmer Kloß in seinem Hals. Er schluckte schnell und schickte einen Boten mit der Botschaft zu General Toycan, dass er sich bei ihm einfinden solle. Milo Toycan war der Befehlshaber über die gesamte Armee des Reiches und er beschäftigte sich auch mit allen administrativen Tätigkeiten, die zur Führung einer solch schlagkräftigen Truppe von Nöten waren. Der General unterstand nur noch dem König, man konnte also sagen, dass er wahrhaftig einer der mächtigsten Männer des Königreichs war, auch wenn er kaum öffentlich in Erscheinung trat. Die Befehle, welche er erteilen wollte, ließ er einmal wöchentlich zu Degaar bringen, welcher sie dann für ihn unterschrieb und somit erteilte. Dies war der einzige Weg, dies zu bewerkstelligen, da die Truppen auf Degaar persönlich als Oberbefehlshaber eingeschworen waren. Nominell galten als zweithöchste Befehlsgeber nämlich die Fürsten, aus deren Gebieten die jeweiligen Soldaten stammten. Dieses System bestand erst seit Degaars Vaters, da in dieser Zeit eine einheitliche Organisation der Truppen der verbündeten Stadtstaaten unerlässlich geworden war, um das Staatsgebiet effektiv zu verteidigen. Dieser hatte seine Fürsten nach zähem Ringen dazu gebracht, zuzustimmen, ihn persönlich als Führer der vereinten Streitmächte vor ihren Truppen anzugeloben. Ein Schwur, der seit Degaars Amtsantritt nach dem Tod seines Vaters auf ihn erneuert worden war. Die Truppen verblieben solange in den Gebieten ihrer Fürsten, bis sie für einen einheitlichen Einsatz benötigt wurden, erst dann rief der König sie zusammen. Generell fand er aber wenig Interesse am Militär, daher war er froh, in Milo Toycan einen solch fähigen Mann und Kammeraden gefunden zu haben. Außerdem war er ihm ein treuer Freund geworden. Ja, er würde den König sicherlich auf andere Gedanken bringen können. Nach einer Weile konnte er bereits die Schritte der militärischen Marschstiefel am Gang hören. Es klopfte und Milo Toycan trat ein, an seiner Seite sein Adjutant Hauptmann Paloma. Der General war ein Mann von beeindruckendem Wuchs und dank seiner prachtvollen, weißen Uniform mit den unzähligen Orden und Abzeichen, die ihn als Veteranen und besonders tapferen Kämpfer auszeichneten, und dem feuerroten Umhang, der lediglich dem General der Armee zustand, wirkte er sogar noch imposanter. Einmal mehr vermisste Degaar das Familienwappen auf dessen Brust, das sonst alle Offiziere mit Stolz trugen, doch nachdem er wusste, dass Milo es hasste, war dies durchaus verständlich.