„Eine zeitlang ist sie regelmäßig hierhin gekommen. Ihr junges Gesicht strahlte immer so eine Traurigkeit aus. Ein hübsches Mädchen, wie sie, sollte mehr lachen. Irgendwann habe ich sie angesprochen. Es ist der natürliche Lauf der Dinge. Wenn man ein Feuer sieht, löscht man es. Wenn man etwas Trauriges sieht, dann spricht man die Person an. Eines habe ich ihr allerdings bis heute nicht verziehen.“
„Was denn?“, fragte Haekwon erschrocken, da sich die freundlichen Züge Tae-Mins schlagartig veränderten.
Der Alte beugte sich mit einer Ernsthaftigkeit nach vorne, dass ihm fast der graue Filzhut vom Schädel rutschte.
„Die Kleine hat es gewagt, meinen Flipperrekord zu brechen.“
Das Lachen der beiden Jungs krachte durch die Spielhalle und übertönte sogar den Geräuschbrei, der aus den Automaten floss. Tae-Min hingegen lächelte nur still in sich hinein, als hätte er ein Kunstwerk erschaffen, mit dessen Resultat er mehr als zufrieden war. Den Nachmittag verbrachten die Jungen am Flipperautomaten, nur Hyuna spielte. Beflügelt von den Anfeuerungsrufen ihrer Freunde ließ sie die eiserne Kugel über das Spielfeld schnellen. Das Klacken und Klingeln, wenn sie an die Banden stieß, erweckte das uralte Gerät zum Leben. Tae-Min hingegen war auf seinem Hocker eingeschlafen und der Filzhut war ihm letztendlich doch vom Kopf gefallen. Mehrere Felder aus Leberflecken bewuchsen seinen kahlen Schädel. Betrübt betrachtete Soo-Jung den Dösenden, da er sich auf einmal selbst alt vorkam. Vielleicht würde er sich die Haare wieder lang wachsen lassen. Schon allein Hyuna zuliebe. Die Partie war gespielt und das Mädchen erschöpft. Mit der Sanftmut einer Enkeltochter legte sie Tae-Min die Hand auf die Schulter. Vom zarten Weckruf öffneten sich die greisen Augen eulenartig.
„Wir gehen jetzt. Es war schön hier.“
Ein Lächeln blitzte in Tae-Mins Gesicht auf und ebenso ein Goldzahn im hinteren Rachenraum.
„Dann bis zum nächsten Mal, liebes Kind.“
Soo-Jung und Haekwon standen hinter ihr und hoben schüchtern zum Abschied die Hand. Tae-Min registrierte sie kaum. Es schien, als würde er noch halb in einem schönen Traum stecken. Erstickt vom Verkehrslärm standen sie wieder auf der Straße. Eine komplett andere Welt umhüllte sie. Unten in der Spielhalle konnte man in Geschichten eintauchen, die von der Realität ablenken sollten. Nur einige Stufen aufwärts, und sie wurden wieder gewaltsam in die wirkliche Welt gerissen.
„Ich muss jetzt los“, verabschiedete sich Hyuna mit einem Auge auf ihre Armbanduhr schielend.
Mit ein wenig Neid betrachtete Haekwon, wie sie Soo-Jung einen Kuss auf die Wange gab, während er selbst nur eine distanzierte Umarmung von ihr bekam. Genießerisch hatte der Kahlkopf seine Augen dabei geschlossen. Es war schon dunkel und beleuchtet vom Neonlicht der Reklamen liefen sie durch den kühlen Abend.
„Lass uns irgendwo was futtern gehen. Mein Magen knurrt, ich habe einen Bärenhunger.“
Nur widerwillig stimmte Haekwon zu und kurze Zeit später saßen sie unter einer Plane eingehüllt vom Rauch, das vom Grill aufstieg. Das Zelt war gut gefüllt und obwohl Haekwon zuerst nichts essen wollte, kam der Appetit mit dem brutzelnden Bauchfleisch, das vor ihm auf der Anrichte lag.
„Ist ein klasse Mädchen, was?“, meinte der Kahlkopf und tunkte das ohnehin schon vor Fett triefende Fleischstück in Sesamöl.
„Ja, sie ist nett.“ Haekwon verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, nachdem er den Soju runtergekippt hatte.
„Du verträgst wohl nichts mehr.“
Die Scherze des Kahlkopfs nervten ihn allmählich, aber Soo-Jung hatte ihm doch nichts getan. Warum verhielt er sich ihm gegenüber nur so missgelaunt?
Mit dem nächsten Schluck kam die Erkenntnis. Es konnte nur Eifersucht gewesen sein. Er, Haekwon, der König der Nacht, der Charmeur, der Frauenheld. Gerade er war nun neidisch auf einen Lieferjungen, der ein Mädchen aus dem Armenviertel liebte. Vielleicht war es die einzig wahre Romantik in dieser sterilen, rationalen Welt. Nach so etwas hatte er sich jahrelang gesehnt, ohne auch nur einen Funken Hoffnung zu haben, es zu finden.
„Warum lachst du?“, fragte Soo-Jung nichts ahnend.
„Ich musste nur dran denken, wie seltsam doch das Leben sein kann“, lallte Haekwon und blickte auf die leeren Sojuflaschen. Soo-Jung wusste nicht mal, was in dem Jungen vor sich ging. Er schlürfte nur seine Dose Hite und rührte den Hochprozentigen nicht an. Das Leben war schön. Man brauchte es sich nicht schön zu trinken. Sein Gegenüber schien das anders zu sehen und kippte sich einen Schnaps nach dem anderen in den Rachen, bis seine Sinne getrübt und sein Geist verwirrt waren. Geradezu scheel blickte er auf Soo-Jung, mit einem milden verstörten Lächeln auf den Lippen.
„Lass uns in eine Bar, und weitertrinken“, lallten diese Lippen.
„Nein, ich muss morgen arbeiten.“
Das schiefe Lächeln verschwand und finster blickte ihn Haekwon an.
„Du kommst jetzt mit und trinkst!“, brüllte der Borstenschnitt.
Haekwon blickte sich um. Alle Gäste starrten ihn an. Mehr verblüfft als erschrocken blickte ihn der Kahlkopf in die Augen, die klarer waren als seine. Das Hardrock Café Shirt lag noch zerknüllt in Haekwons Fäusten. Warum war er hochgeschnellt und hatte den Lieferjungen am Kragen gepackt? Was war nur in ihm gefahren? Auch Soo-Jung schaute sich um. Die übrigen Gäste wirkten überrumpelt, aber der Standbesitzer blieb gelassen. Nachdem Haekwon ihn losgelassen hatte, strich sich Soo-Jung sein T-Shirt glatt und verließ das Zelt.
„Was glotzt ihr denn so?“, schmetterte Haekwon den anderen Gästen entgegen. Mehr aus Scham als aus Wut. Dann rannte er Soo-Jung hinterher, der schon fast von der Dunkelheit verschluckt worden war. Die kalte Nachtluft traf ihn wie ein Fausthieb und er verspürte nun Übelkeit und Ekel, mehr über sich selbst als vom Reisschnaps.
„Soo-Jung! Soo-Jung, komm zurück!“, rief er noch in die Dunkelheit, aber bis auf sein Echo, das von den umliegenden Häuserblocks zurückschallte war, war nichts mehr zu vernehmen.
Rote Tapeten
Sie saß mit ihrem Bruder auf der Mauer und blickte in den stahlgrauen Himmel, wo die Krähen wachsam über das Viertel kreisten. Hässliche Vögel, aber wenn sie flogen, besaßen sie trotzdem eine gewisse Anmut.
„Wo wollen die hin?“, fragte Ji-Min mit seinem knotigen Finger auf das schwarze Gefieder deutend.
In solchen Momenten liebte sie ihren Bruder besonders. Seine hinreißende Wissbegier entzückte sie, dass sie zuerst über seinen Topfschnitt strich, bevor sie eine Antwort gab.
„Ich weiß es nicht. Es sind Vögel. Sie sind frei. Die können hinfliegen, wohin sie wollen.“
„Wieso können wir nicht so sein?“
„Menschen folgen bestimmten Regeln und Gesetzen. Die gibt es bei Krähen nicht. Wir brauchen sie, die Tiere nicht.“
Über die Welt wusste sie zwar nicht besonders viel, aber sie versuchte ihrem Bruder das Wenige zu vermitteln, was sie gelernt hatte. Bildung war der einzige Kompass, der ihn aus diesem Elend herausführen konnte. Weg von ihrem ständig betrunkenen Vater, weg von diesem Gestank und weg von der Vergangenheit. Ihre Mutter hatte diesen Schritt gewaltsam erzwungen. Den Preis dafür zahlten sie und Ji-Min.
„Hyuna, lauf zum Laden und mach ein paar Besorgungen!“ Er stand im Unterhemd in der Kälte, ausnahmsweise nüchtern. Die Schlappen viel zu groß für seine Füße und die Schlange aus Leder, die seine graue Stoffhose oben hielt, umklammerte eng seinen mächtigen Bauch.
„Kann ich mitkommen?“, fragte Ji-Min.
„Nein, du bleibst hier“, raunte Jun-Su.
Mit einem leeren Plastikbeutel lief sie durch die grauen Gassen. Erneut