„Nein, du bist sogar, um ehrlich zu sein, der Normalste, den ich kenne. Meine Eltern sind merkwürdig. Ich verstehe sie häufig nicht. Ich kann einfach nicht zu ihnen durchdringen. Es ist, als gäbe es in unserem Haus eine unsichtbare Barriere, die wir noch nie überwunden haben. Mein Vater, ich kenne ihn nicht, und das Gesicht meiner Mutter ist nur ein Gesicht.“
Soo-Jung zerknüllte die Dose in seiner Hand und warf sie in die Tiefe. In schrägen Bahnen segelte sie hinunter, wurde vom Wind erfasst und trieb wieder hoch, nur um dann weiter zu fallen. Die beiden Jungs betrachteten schweigend das Zusammenspiel zwischen Material und Naturgewalt. Unten angelangt wiegte sich die Dose mit einer gewissen Sanftmut ins vertrocknete Grasbett. Ein starker Windzug erfasste die Fassaden der umliegenden Gebäude und für einen kurzen Moment schien das tote Gestein, umringt von verwehtem Laub, der von den kahlen Bäumen gewaltsam runtergerissen worden war, zu erwachen. Inzwischen waren nur wenige Worte gewechselt und das Bier geleert.
„Meine Eltern leben nicht mehr, glaube ich zumindest. Ich durfte sie nie kennenlernen. Keine Erinnerungen zu haben, das ist mein Schicksal. Ich würde mir gern ein Urteil über sie bilden, aber wo keine Erde ist, kann auch nichts wachsen.“
Einige Spatzen zogen weit oben an ihnen vorbei. Man erkannte sie kaum, da sie sich farblich wenig vom grauen Himmel abhoben. Gut getarnt bahnten sie sich ihren Weg durch höhere Sphären, die nie ein Mensch ohne technische Hilfsmittel durchqueren konnte. Mit zittrigen Fingern deutete Soo-Jung auf den Schwarm.
„Siehst du den einen Vogel?“ Noch immer seinen Arm in Höhe gestreckt blickte er Haekwon ins Gesicht. „Der eine fliegt ganz allein seine Flugbahn, während die anderen in der Gruppe bleiben. Ich frage mich, kann er nicht mit den anderen mithalten oder will er nicht im Schwarm fliegen? Ist es reine Willkür oder Unvermögen?“
Haekwon kam sich plötzlich so dumm vor. Wieso war er hier? Was erhoffte er sich von dem Treffen? Glaubte er wirklich, dass Soo-Jung sein Freund war?
„Vielleicht ist es von beidem etwas. Der kleine Spatz hat geglaubt, dass er zur Gruppe gehören will, aber er hat erkannt, dass die anderen ihn nicht akzeptieren, daher gibt er sich absichtlich keine Mühe mehr. Jede weitere Kraftanstrengung wäre wertlos. Die anderen Spatzen fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt und er hat schließlich die Einsamkeit, die er wollte. Alle sind letztendlich zufrieden.“
„Du scheinst den Spatzen viel zuzutrauen.“
Das schallende Gelächter des Kahlkopfs bedeckte die maroden Dächer der umliegenden, architektonischen Fossilien wie kalte Asche. Soo-Jung erhob sich und stand nun direkt am Rand. Ehrfürchtig, aber auch mit einem Schimmer Sehnsucht blickte er in die Tiefe. Haekwon erschrak, als er in das fahle Gesicht blickte und genau die Gefühlsmischung in der sonst toten Mimik erkannte. Er tat es seinem Kollegen gleich. In einem tödlichen Balanceakt standen beide da und schwankten im Wind, als befänden sie sich in einer Art Agonie. Der Todeskampf hieß das Leben und das Leben war ein Todeskampf.
„Denkst du manchmal an den Tod?“, fragte Soo-Jung.
„Nie.“
„Ich frage mich, wann es bei mir soweit sein wird. Es ist tragisch, dass man sein ganzes Leben mit dieser Ungewissheit leben muss. Wenn das Lamm zur Schlachtbank geführt wird, trauern die anderen Lämmer.“
„Mich würde keiner vermissen.“
„Mich auch nicht.“
Langsam stiegen sie wieder die Treppen hinab. Mit jeder Stufe kamen sie dem sicheren Boden näher.
„Denkst du gerade an sie?“ Hinter dieser Frage steckte mehr Eifersucht als Neugier, wie sich Haekwon eingestehen musste.
„Immerzu“, meinte Soo-Jung. „Sie ist das Mädchen, das ich für immer lieben werde. Das weiß ich jetzt.“
Unten angelangt standen sie vor der rostigen Metalltür, die sie vom Tageslicht abschirmte. Es herrschte eine bedrückende Stille. Nur der Wind, der seinen herbstlichen Atem durch die Ritzen blies, war zu hören.
„Woher willst du wissen, dass sie die eine ist?“, fragte Haekwon.
Stumm schaute der Kahlkopf das Treppenhaus hoch, als wollte er die Decke nach etwas absuchen, das nur er sehen konnte.
„Ich fühle es einfach, hier drin.“ Zweimal klopfte er sich auf die Brust, ohne dabei seinen Blick zu senken. Dann schob Soo-Jung die Tür auf und grelles Tageslicht fraß sich in Haekwons Iris, sodass er sein verzerrtes Gesicht mit der Hand abschirmen musste. Eine Zeit lang spazierten sie über das vertrocknete Gras, das stellenweise von matschigen Blättern bedeckt war. Die weißen, unbewohnten Betonklötze hatten sie wie fahle Obelisken umzingelt. Bedrohlich wirkten sie mit ihrem fleckigen Gemäuer und den zerborstenen Fenstern, die an die scharfen Zähne eines Hais erinnerten.
„Wenn ich eines Tages von dieser Erde verschwinden sollte, wird sich niemand mehr an mich erinnern. Ich will nicht abtreten, ohne Fußspuren hinterlassen zu haben.“
„Fußspuren?“ Haekwon zog eine Braue hoch. So rüpelhaft der Kahlkopf sich benehmen konnte, so war er doch ein Gedankenmensch, der nach einem höheren Sinn strebte.
„Hyuna soll sich an mich erinnern, auch wenn diese Verbindung nicht lange halten sollte.“
Sie gingen an einem verlassenen Spielplatz vorbei. Die rostigen Ketten der Schaukeln, vom grünlichen Moder befallene Wippen und das poröse Metall einer einsamen Rutsche, alles einbettet im aschgrauen Sand, über dem nie unschuldiges Kinderlachen schallen würde, veranlassten sie, innezuhalten. Stöhnend ließ sich der Kahlkopf auf eine der Schaukeln nieder. Haekwon tat es ihm gleich. Gemeinsam ließen sie ihren Blick über die verlassene Gegend schweifen, die sich schwer und trostlos auf das Gemüt legte, dennoch geheime Sehnsüchte weckte, die Haekwon selbst fremd waren.
„Fußspuren habe ich bereits viele hinterlassen, aber die meisten davon würde ich am liebsten wieder verwischen“, meinte Haekwon nach längerem Schweigen. Er rieb sich die Hände. Langsam wurde es kühler und der Himmel mit seinem grauen Gewölbe drohte sich, über sie zu ergießen.
Mit kindlicher Unbefangenheit fing der Kahlkopf an, zu schwingen. Dabei flatterte die Regenjacke wild wie ein steigender Drachen im Wind. Haekwon Beine hingegen waren noch in den feuchten Sand gestemmt. Er hatte keine Lust, sich dem infantilen Trieb des Kahlkopfs zu beugen. Als er die verlassenen Hochhäuser, die verwilderte Vegetation und den verrotteten Spielplatz betrachtete, wurde ihm klar, dass er viel zu lange in Gangnam gelebt hatte, ohne zu wissen, dass es in dieser Stadt Orte gab, die deutlich interessanter waren. Die Erkenntnis war frustrierend, da er seine Lebenszeit vergeudet hatte. Statt die noch ihm unbekannten Viertel zu erkunden, hatte er sich zu lange mit Dingen beschäftigt, die keinen Wert besaßen. Ein Plumpsen riss ihn aus den Gedanken. Soo-Jung hatte sich rücklings in den Sand fallen lassen und starrte verträumt in den Himmel. Zunächst zögerte Haekwon, aber legte sich dann auch hin. Rastlose Wolken brauten über ihnen zusammen. Der nächste Regenschauer kam, aber den beiden Jungs war es egal.
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