Durch die Menschenmenge erkannte er bereits Haekwon, der auf den von Straßenlampen beleuchteten Stufen vor dem quadratischen Gebäudekomplex saß. Seinen eckigen Kopf mit dem Bürstenschnitt hatte er an den Sockel einer Statue gelehnt, die einen Akademiker in stolzer Pose darstellte, der seinen autoritären Schatten über den Campus warf. Entspannt blinzelte er zu Soo-Jung hoch, obwohl dieser das künstliche Licht mit seinem Körper verdeckte. Der Campus war leergefegt und die Studenten wie emsige Ameisen in ihre jeweiligen Lernkammern geströmt. Begierig neues Wissen aufzunehmen, das sie auf das Leben projizieren konnten. Nur noch die beiden Ungelernten standen hier auf diesem Geistergelände. Ächzend richtete sich Haekwon auf. Soo-Jung hatte schon beim ersten Treffen bemerkt, dass der Junge zu viel auf den Rippen hatte. Dick war er allerdings nicht, sondern nur etwas aufgedunsen. Haekwon schlug gleich vor, einen kleinen Straßenstand aufzusuchen, an dem hervorragendes Feuerfleisch angeboten wurde. Widerwillig willigte Soo-Jung ein, da ihm noch die Instantnudeln schwer im Magen lagen.
Kurze Zeit später befanden sie sich in einem Zelt, das sich von dem Odengstand neben dem Seoul Tower optisch kaum unterschied. Hier roch es allerdings nach salzigem Sesamöl und gegrilltem Bauchfleisch.
„Also, du hast ein Mädchen kennengelernt“, sagte Haekwon gedämpft, da er sich etwas Rindfleisch in den Mund geschoben hatte, das appetitlich in einem Salatblatt verpackt war.
„Hab sie mal beliefert. Naja, jetzt nicht mehr. Trotzdem treffen wir uns.“
Soo-Jung kippte sich etwas Soju in den Rachen und verzog das Gesicht. Normalerweise trank er keine Spirituosen und er hatte das Gefühl, dass Feuerameisen seine Speiseröhre runterkrochen.
„Was ist denn los mit dir? Willst du nichts essen?“
„Nein, keinen Hunger.“
Abrupt stoppte Haekwon seine Kaubewegung und blickte Soo-Jung ernst an. Eine Weile schwiegen beide. Nur das aus der Propanflasche strömende Gas, was die Flamme nährte und das auf der Metallvorrichtung brutzelnde Fleisch waren zu hören, während ein Schleier aus Rauch sie voneinander trennte.
„Was hast du? Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein, es geht mir gut. Ich mache mir nur Sorgen um das Mädchen. Hyuna heißt sie übrigens. Ihr Vater scheint sie schlecht zu behandeln. So ein kleiner degenerierter Fettsack.“
Es drängten sich mehr Leute in das kleine Zelt, hauptsächlich Studenten, die nach dem Lernen sich den vergnüglicheren Teil des Lebens widmen wollten. Die zierliche Bedienung, wahrscheinlich die Tochter des Besitzers, hetzte von einem Tisch zum nächsten, ihr Gesicht zu einer gestresst freundlichen Miene verzogen. Die jungen Leute verstanden es, zu essen, zu trinken und zu leben. Haekwon bewunderte diesen Lebensgeist. Schon bald war das Zelt gefüllt mit hellen Stimmen und aufrichtigem Gelächter, sodass man sich vorkam, als wäre man auf einer kleinen Privatparty. Soo-Jung nahm sich eine Peperoni und dippte sie in die scharfe Sojapaste. Das brennende Gefühl auf der Zunge versuchte er mit Soju zu löschen, während Haekwon ihm mit einem amüsiert und leicht vernebelten Blick dabei zusah.
„Was ist?“, fragte er, weil der Borstenschnitt immer noch grinste.
„Ich habe mir nur überlegt, wie gerne ich eigentlich dein Leben führen würde“, lallte Haekwon und schenkte noch etwas Reisschnaps nach.
„Du spinnst doch. Ich bin arm und du bist reich. Du kannst den ganzen Tag tun, was du willst. Ich muss für meinen Lebensunterhalt strampeln, damit ich nicht untergehe.“
„Nein, rede nicht so einen Blödsinn. Jeder denkt, dass Geld etwas Gigantisches ist. Etwas, was den Menschen freier und besser macht.“
„Ist es nicht so?“
„Absoluter Unsinn. Reichtum hat auch seine Schattenseiten. Schau dir meinen Alten an. Ständig ist er in Sorge, wie er sein Vermögen verwalten und halten kann. Er lebt in permanenter Angst, alles zu verlieren. Ich weiß nicht, was daran so erstrebenswert sein soll. Und so werden wie er, will ich nicht. Ich soll mich bilden, damit ich eines Tages auch so erfolgreich bin, aber was ist das denn schon für ein Ruhm in ständiger Furcht leben zu müssen.“
So langsam bekam Soo-Jung doch Appetit und er nahm sich ein Stück Bauchfleisch vom Grill.
„Mein Mitleid für die Reichen hält sich in Grenzen. Ein Arbeiter lebt schließlich auch in ständiger Sorge, wie er seine Familie ernähren und seine Miete pünktlich bezahlen soll. Glaubst du Leute, wie wir, haben keine Ängste?“
Haekwon nahm sich auch eine Peperoni, die er wie einen Revolver auf Soo-Jung richtete.
„Der entscheidende Unterschied besteht allerdings darin, dass man ganz unten ist. Und wenn man ganz unten ist und nichts zu verlieren hat, geht man mit der Furcht anders um.“
Langsam wurde Soo-Jung wütend, da dieser Bonzenbengel sich tatsächlich einbildete, dass sich die Wohlhabenden dieser Stadt in einer schrecklichen Zwickmühle befanden.
„Du kannst doch gar nicht beurteilen, wie sich ein Bau- oder Fabrikarbeiter fühlt. Warst du schon mal in Geldnot?“
In einem Zug leerte Haekwon sein Glas und knallte es auf den Tisch.
„Kannst du denn beurteilen, wie ich mich gerade fühle?“, schleuderte er entschieden dem Glatzkopf ins Gesicht. Wie bei einem Showdown sahen sich beide an. Dann lachte Soo-Jung laut auf, was Haekwon mehr verblüffte als verärgerte.
„Lassen wir uns von dem Thema nicht die Laune verderben. Wir kennen uns doch kaum und streiten schon wie ein altes Ehepaar.“
„Geonbae“, murmelte Haekwon und hob zur Zustimmung sein Schnapsglas in die Höhe.
Die beiden stießen an, sodass das Soju über die Ränder schwappte und in die Höllenhitze der Bratvorrichtung tropfte, auf der es zischend verdampfte.
„Lass uns heute feiern“ schlug Haekwon vor.
„Feiern, was willst du feiern?“, fragte Soo-Jung und drehte sich um, da hinter ihm eine Gruppe Studenten im Kanon laut loslachte.
„Ich weiß nicht“, meinte Haekwon. „Muss man denn immer einen Grund dafür haben. Lass uns einfach ein wenig Spaß haben.“
Nachdem Haekwon das Essen bezahlt und der Bedienung zusätzlich noch ein großzügiges Trinkgeld spendiert hatte, stiegen beide in ein Taxi. Der Fahrer, ein mürrischer Dicker, beschwerte sich über die kurze Strecke, die ihm kaum Gewinn einbrachte, aber die beiden ließen sich vom Lamentieren nicht beeindrucken und genossen die kurze Fahrt. Ziel war eine Disco, die Haekwon gelegentlich sogar allein aufsuchte. Hier tummelten sich Feiernde aus allen Schichten. Nightwatch hieß der Laden und als sie eintraten, wurden sie von gleißenden, bunten Lichtern geblendet, die epileptisch über die Tanzfläche zuckten, während sie von dumpfen Bassklängen begleitet wurden. Soo-Jung bemerkte die Sicherheit, mit der sich Haekwon durch den Raum bewegte. Neu schien dem Bürstenschnitt die Disco nicht zu sein. An der Bar wurden zwei Bier bestellt, die mit unglaublicher Schnelligkeit serviert wurden, als wenn die zügige Musik die Arbeitsgeschwindigkeit vorgab. Während Soo-Jung das kalte Getränk erfrischend die Kehle runterlief, beobachtete er den Mob, der die Tanzfläche überflutet hatte und sich wie eine homogene Masse bewegte, bis sie zu einem einheitlichen Organismus zusammenwuchs. Auf Haekwons Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, die im bunt flackernden Licht einen ungewöhnlichen Glanz entwickelten.
„Ich war eigentlich schon länger nicht mehr hier!“, brüllte Haekwon gegen die frivol feiernde Menschenmenge an und hielt sich dabei die kalte Flasche an die Stirn.
Soo-Jung reagierte nicht auf die Worte. Tatsächlich gefiel ihm der Laden. Denn hier schienen die Leute das Leben zu feiern. Einige hübsche Mädchen konnte er in der fröhlichen Menge ausmachen, die seinen schüchternen Blick nicht spürten und sich hypnotisch ganz den lauten Klängen aus den Boxen hingaben.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Haekwon