Ji-Min saß am Esstisch und spielte mit Karten, während ihr Vater auf dem Sofa lag und schnarchend seinen letzten Rausch ausschlief. Im Hintergrund lief der Fernseher: Erneute Spannungen mit dem Bruder aus dem Norden, eine Schießerei mit Toten in den USA, abgemagerte Kinder in Uganda und das Wetter. Die Stimme des Unheils gehörte einer hübschen Sprecherin, die mit erschreckender Präzision über das Elend der Welt berichtete. Dieselbe Stimme erfüllte den ganzen Raum, wie die Stimme Gottes. Doch sie verstummte, als Hyuna den Fernseher ausschaltete. Endlich hatte Ji-Min, bisher versunken in den Tiefen seines Spieltriebs, sie bemerkt.
„Da bist du ja endlich!“, rief er mit kindlicher Freude und sprang ihr um den Hals.
Die grelle Stimme ließ auch Jun-Su aus seinem Schlaf erwachen. Mit einem tiefen Grunzen öffnete er seine Augen und blickte seine beiden Kinder misstrauisch an.
„Wie spät haben wir´s?“, fragte er mit großer Unzufriedenheit.
„Gleich halb fünf“, antwortete Hyuna gehorsam.
Nach dem Schlaf war seine Laune besonders mies und aus reiner Schutzmaßnahme tat sie alles, was er von ihr verlangte. Manchmal dachte sie, dass er der unzufriedenste Mensch auf Erden war. Nicht nur die selbstherbeigeführte Armut, sondern auch die Einsamkeit waren vermutlich die Ursachen seines Grams. Keinesfalls wollte sie so werden wie er, so mies gelaunt und missmutig. Selbst als ihre Mutter noch da war, war er nicht viel anders gewesen. Solange sie denken konnte, war er das Abbild des missgelaunten Menschen gewesen. Dieser Charakterzug hatte sich im Laufe der Jahre tief in sein Gesicht geschnitten, sodass die meisten Leute ihn mieden. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihre Mutter weglief. Auf der Straße hieß es nur, Jun-Su, dem möchte man nicht nachts auf der Straße begegnen oder Jun-Su, das ist ein unangenehmer Zeitgenosse. Den Ruf hatte er bereits im ganzen Viertel. Wenn Hyuna allein durch die Gassen spazierte und auf bekannte Gesichter traf, hieß es nicht etwa: Wie geht es deinem Vater? Vielmehr: Kommst du zurecht? Oder was macht dein Bruder? In Bezug auf ihren Vater hatten die meisten ihren empathischen Panzer abgelegt und lästerten, bis ihnen die Zungen schmerzten. Manchmal empfand Hyuna deswegen Mitleid mit ihm, aber wenn sie wieder Daheim war und er sie mit seinem säuerlichen Alkoholatem anhauchte, wurde ihr Mitgefühl wie eine dünne Staubschicht weggeweht.
„Mach das Essen fertig“, brummte er und setzte sich an den Tisch, um Ji-Min anzustarren, der versuchte, ein Kartenhaus zu errichten.
Hyuna hockte in der Ecke und füllte den letzten Reis aus einem Leinensack in den Topf. Sie mochte das Geräusch, wenn die harten Körner tosend auf Metall trafen. Im Hintergrund hörte sie ihren Bruder weinen. Jun-Su hatte mit einer flüchtigen Handbewegung das kleine Bauwerk zerstört. Hyuna sagte nichts, sondern nahm Ji-Min in die Arme.
„Wie eine glückliche Familie“, zischte Jun-Su verächtlich, während er die beiden auf dem Stuhl sitzend betrachtete.
Zum Glück rauchte er nicht. Dafür war Hyuna dankbar. Das hätte ihr ohnehin schon knappes Geld wie eine Eisscholle im Atlantik wegschmelzen lassen. Der Topf mit dem Reis brodelte und Hyuna briet in der Pfanne das Feuerfleisch, das ihre liebe Nachbarin, Frau Lee, ihr in einem stillen Moment gegeben hatte. Die pummelige und liebenswerte Frau wohnte nur zwei Häuser weiter und brachte ihnen öfters was zu essen. Wenn sie Jun-Su erblickte, wandelte sich ihre freundliche Miene, als hätte sie gerade vom Arzt eine schlimme Diagnose erfahren. Mit Hyuna und Ji-Min hatte sie Mitleid. Unzählige Male hatte sie die beiden klamm heimlich in ihr Haus eingeladen, um sie zu bekochen. Noch nie hatte Hyuna eine so gute Misosuppe gegessen wie die von Frau Lee. Selbst ihr Bruder, der viel zu mager für sein Alter war und sich vor jeder Mahlzeit drückte, fragte regelmäßig, wann Frau Lee sie wieder einladen würde. Jun-Su wusste von all dem nichts. Überhaupt bekam er nur die Hälfte des Tages etwas mit, die nüchterne Hälfte. Brummend legte sich das Familienoberhaupt wieder auf die Couch. Auch der Fernseher lief wieder. Hyuna nahm den Kartenstapel und spielte mit Ji-Min eine Runde. Das Fleisch war durch und eine angenehm köstliche Geruchswolke breitete sich langsam im Raum aus. Frau Lees Marinade war doch die beste. Zischend erregte der Topf mit dem Reis ihre Aufmerksamkeit. Etwas Wasser war auf die Herdplatte geschwappt. Das übernahm Ji-Min. Er drehte am Schalter und weiter ging das Spiel.
Das Mahl Daheim unterschied sich keiner Weise von dem in der Schulkantine. Auch hier hörte man ein Konzert, das von Essstäbchen, Schalen und Löffeln gegeben wurde. Gelegentlich unterbrach das Rülpsen des Vaters das schöne Klimpern der Essstäbchen, die mit den Reisschalen in Berührung kamen. Jun-Su wischte sich seine vom Fett beschmierten Finger am bereits fleckigen Unterhemd ab. Die meiste Zeit herrschte Schweigen. Dann hörte man den Kühlschrank brummen, den Nachbarshund bellen und ein Ehepaar streiten. Es ging um Geld und ein kleines Baby, das die Erwachsenenprobleme nicht verstand, sehnte sich schreiend nach Ruhe. Die Bleibe steckte voller Leben, aber es war nicht das Leben, was sie wollte.
Ich sehe was, das du nicht siehst
Die Pendeluhr im Wohnzimmer schlug schwermütig zur Mittagszeit. Haekwon war auf der Couch eingeschlafen und sein Blick machte träge eine kleine Wanderung durch das Apartment. Seine Eltern waren gemeinsam zum frühmorgendlichen Tennisspiel gegangen. Anscheinend wollten sie sein fehlendes Engagement ausgleichen. Sunia hatte heute ihren freien Tag. Noch nie war Haekwon die Wohnung so leer vorgekommen. Ein Prinz, der in seinem Elfenbeinturm hockte und sich langweilte. Zeit war eine merkwürdige Sache. In solchen Momenten konnte sie sich hinziehen wie eine langweilige Theatervorführung. Aus purer Verzweiflung schaltete er den überdimensional großen Fernseher ein. Beim Zappen reihten sich Seifenopern an Nachrichten, albernen Spielshows und Kochsendungen, die seinen ohnehin schon knurrenden Magen unnötig malträtierten. Aus noch größerer Verzweiflung nahm er einen Kochtopf, um sich Instantnudeln zu machen. Sunia war neben einer guten Putzfrau auch eine verflucht gute Köchin. Sein unbändiger Hunger steigerte seine Sehnsucht nach ihrem schmackhaft scharfen Duk Boki. Das Wasser kochte bereits. Im Topf brodelte es, als würde darin ein Orkan wüten. Haekwon saß am Küchentisch und wärmte sich in den mittäglichen Sonnenstrahlen, die in seinen gläsernen Palast schienen. Eine Eingebung, oder vielmehr eine simple Idee ließ ihn den Herd wieder ausschalten. Das kochende Wasser kam wieder zur Ruhe. Der Sturm hatte sich gelegt und der Topf konnte sich abkühlen. Der rote Faden, der in seinem Borstenkopf spukte, führte ihn zum Laptop. Ein Treffen mit Soo-Jung wäre die beste Möglichkeit, Zeit totzuschlagen und seinen Hunger zu stillen. Vorausgesetzt der Lieferjunge musste gerade nicht liefern.
Haekwon hatte Glück. Der Glatzkopf war ONLINE.
Diesmal suchte Soo-Jung wieder den Treffpunkt aus.
Als Haekwon aus dem Taxi stieg und dem mürrischen Fahrer durch das halboffene Seitenfenster die Won-Scheine zuschob, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Es war wie eine innere Brise, die seine Organe umwehte, um ihn zu warnen. Im Textchat konnte man Sätze, Aussagen oder Zeichen in vielerlei Hinsicht deuten. Meist musste ein Orakel befragt werden. Und der Satz: HEUTE WIRD ES MAL ANDERS SEIN, ließ in ihm ein Gefühl der Unsicherheit aufkeimen. Durch die Scheibe, die mit grünen Zeichen bedruckt war, KIMS NUDELSPEZIALIÄTEN LEBEN SIE SO LANG WIE UNSERE NUDELN, konnte er sehen, welche Veränderung der Kahlkopf gemeint hatte. Neben Soo-Jung saß ein Mädchen in Schuluniform, ein sehr hübsches Mädchen. Beide lachten. Sie mehr als er. Und beide tätschelten sich zärtlich ihre Hände, während sie auf der Holzbank saßen, umgeben von anderen Gästen, und auf seine Ankunft warteten. Es hatte sich tatsächlich etwas ergeben. Durch das langsam abblätternde, grüne Zeichen betrachtete er noch lange Zeit das frische Paar und er fühlte etwas, das er seit Ewigkeit nicht verspürt hatte. So lange, dass er schon glaubte, es vergessen zu haben, wie es sich anfühlte. EIFERSUCHT. Zwar kannte er das Mädchen in der adretten Schuluniform nicht, aber er wusste, dass sie sein Herz brechen würde. Sollte er wirklich diesen Laden betreten, um seinen Fuß freiwillig auf diese Mine zu stellen?
Er tat es.
Die