Das schweigende Gegenstück von Frau No, Frau Oh, saß nur auf dem mit blauer Seide bespannten Eichenstuhl und blickte verlegen auf die gläserne Tischplatte. Seitdem sie von ihrem Mann, ein erfolgreicher Rechtsanwalt aus Taegu, mit seiner Sekretärin betrogen wurde, lebte sie von stattlichen Alimenten. Was ihr an Selbstbewusstsein mangelte, schien Frau No für sich beansprucht zu haben. Wie einen Pudel schleifte die Frau mit dem Pferdegebiss ihre vermeintliche Freundin ein ganzes Leben hinter sich her. Mitleid empfand Haekwon mit Frau Oh nicht. Vielmehr ein Gefühl von Verachtung, wenn er in das fahle Gesicht von Frau Oh blickte. So bleich, so charakterlos, so schwach, dass alles Geld der Welt diese Makel nicht beheben konnte. Gelegentlich war ihre Scheidung der Mittelpunkt des Tratsches und Frau No konnte sich einige bissige Bemerkungen nicht verkneifen. Wobei sich jedes Mal ein listiger Ausdruck auf ihrem von Mascara entstellten Gesicht einnistete.
„Ach ja“, wandte sich endlich Frau No ihm zu. „Mein Junge, ich wollte dich gerne etwas fragen. Bekanntlich will mein Sohn bald mit seinem Medizinstudium anfangen. Und da du deine Schule hoffentlich bald beenden wirst, wirst du doch bestimmt auch mit einem Studium beginnen? Ich bete inständig dafür, dass du die Schule dieses Jahr beenden wirst.“
Nun blickte Yeon-Woo ebenfalls verlegen auf die Tischplatte. Reflexartig schaute er zu seinem Vater, was ihn selbst ein wenig überraschte. Hee-Chul hatte sich auffällig zurückgehalten, aber nun nickte er seinem Sohn ernst zu. Als Angeklagter musste sich Haekwon erst die Zustimmung von seinem blutsverwandten Advokaten abholen, bevor er eine Antwort wagte.
„Vielleicht belege ich nach der Schule einen Kurs in Soziologie.“
An Hee-Chuls angespannter Körperhaltung sah Haekwon, wie der König der Schreibwarenartikel innerlich die Hände über den Kopf schlug und sich dabei am Kronenzacken schnitt.
„Allerliebst“, meinte Frau No und zog ihr künstlichstes Lächeln aus der Schublade. Sie atmete einmal tief durch, als würden die nächsten Worte sie eine Unmenge an Kraft kosten. „Jedenfalls könntest du dir vorstellen, dir eine Wohnung mit ihm zu teilen? An den Kosten liegt es nicht. Wir haben Gott weiß so viel Geld für sein Studium zur Verfügung, um ihm den nobelsten Loft zu bezahlen.“ Nun schallte ein affektiertes Lächeln wie ein eisiger Windzug durch die Küche. „Vielmehr, fuhr sie fort, „beunruhigt es mich, wenn er so allein leben muss.“
„Also soll ich seinen Babysitter und Hausdiener spielen.“
„Haekwon! Wie kannst du es wagen?“, schritt Hee-Chul peinlich berührt ein. „Du vergisst dich.“
„Lassen Sie nur, Herr Kim.“ Versöhnlich knickte Frau Nos faltige Hand nach vorn. Dabei funkelten die mit Edelsteinen besetzten Ringe an ihrem rotlackierten Fingern wie Diskokugeln. „Jungen in diesem Alter sind sehr impulsiv und schwafeln schnell unbedacht dummes Zeug. Ich nehme seine jugendliche Naivität nicht böse.“
„Mag sein, dass ich jung und naiv bin. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ihr Sohn ein arroganter Kotzbrocken ist.“
„Haekwon, jetzt reicht´s! Verschwinde in dein Zimmer!“
Frau No schmunzelte und trank einen Schluck Kaffee, um diese Anfeindung möglichst elegant runterzuspülen. Seine Mutter hatte bislang geschwiegen, was ihn enttäuschte. Still aß sie ihren Kuchen und neben dem Zucker fraß sich auch stiller Frust in ihren Körper. Ebenso saß Frau Oh sprachlos da. Stolz schlich sich in Haekwons Seele. Endlich hatte er den Mut gefunden, die Wahrheit auszusprechen. Nie mehr würde ihn Hee-Chul dazu zwingen, sich dem Zwang so einer illustren Gesellschaft auszusetzen. Haekwon hatte es einfach satt, in so einer gespielten Welt den großen Schauspieler zu miemen, während seine Seele im Inneren langsam verrottete. Er dachte an die Zeit zurück, in der er durch das Armenviertel zwischen den vermoderten Mauern umhergeirrt war. Arm an Besitz und reich an Herz, so empfand er die Bewohner dieser Gegend. Ehrliche, hart arbeitende Menschen, die sich den kleineren Freuden des Lebens hingaben. Hier hingegen traf er mit seiner Faust nur auf harten, verlogenen Granit. Es waren keine weiteren Worte mehr nötig. Haekwon stand auf, wobei der zornige Blick seines Vaters auf ihn lastete. Die verdutzten Gesichter der feinen Damen nahmen wieder diese Last von seinen Schultern, sodass er mit einer gewissen Genugtuung sein Zimmer betrat. Ratlos schmiss er den Tennispokal, Yeon-Woo musste ihn dort hingestellt haben, von der Kommode und klappte sein Notebook auf. Ein bleiches Fenster erschien am Bildschirmrand wie ein schwach leuchtender Stern am Firmament. Browneyes55 meldete sich wieder zum Dienst der Freundschaft zurück. Haekwon klickte die grell blinkenden Werbeanzeigen weg, um sich zu seinem Gesprächspartner vorzuarbeiten. Endlich war der Bildschirm vom kommerziellen Abfall befreit, und er blickte auf das einzige Positive an diesem Tag. Nach seinem Wutausbruch wäre eine Nachricht von Browneyes55 das Letzte gewesen, womit er gerechnet hätte. Anscheinend spielte ihm das Leben wieder gute Karten zu. Er war nun an der Reihe sein Blatt klug und bedacht zu legen.
Bluebird27: Hätte nicht gedacht, dass du dich noch meldest. Warum hast du nicht auf meine Nachrichten reagiert?
Browneyes55: Da fragst du noch? Nach der Nummer, die du letztes Mal abgezogen hast. Uncool sag ich dir, wirklich uncool.
Bluebird27: Sorry
Browneyes55: Komm wir treffen uns?
Buebird27: Wo?
Nachdem Haekwon den muffigen Bus verlassen hatte, stand er vor einem weiß gestrichenen Betonklotz, der von Geistern bewohnt zu sein schien. So verwahrlost wie ein Straßenköter und umringt von verdorrtem Gras hätte er perfekt eine Filmkulisse für einen Horrorstreifen abgeben können. Die schwere Metalltür, die sich schon fast aus den Angeln hob, stand offen und konnte er nur mühsam nach vorne schieben, da sie stark über den Boden schleifte. Haekwon wagte sich langsam in den Schlund des Betonmonsters und stieg schwitzend die Steintreppen hoch. Verdammt war er unsportlich geworden. Softdrinks und Cracker hatten seinen organischen Tempel zum Einsturz gebracht. Das hölzerne Treppengeländer gab es stöhnendes Knarren von sich, als er sich darauf stützte. Mit einer gewissen Neugier betrachtete er die Wände, die nur sporadisch mit grüner Farbe bekleckst waren, als wäre der Streicher während der Arbeit eingeschlafen. Im obersten Stockwerk stand ihm nur noch eine rostige Eisentür im Weg. Diese knarrte laut, aber der Junge, der auf dem Dach saß und in den stahlgrauen Himmel blickte, hatte sich nicht umgedreht. Das Flachdach war mit Kies ausgelegt und unter seinen Nikes knirschten seine Schritte, die nur noch zwei Meter von Soo-Jung entfernt waren. Der kahlgeschorene Kopf wirkte so farblos wie das himmlische Deckengewölbe. Seine blaue Regenjacke wurde gelegentlich vom Wind erfasst und wachte im Sekundentakt aus dem Koma auf. Noch eine Weile stand Haekwon hinter ihm. An der Kunststofflasche des Sixpacks fehlten bereits zwei Dosen.
„Setz dich“, sagte Soo-Jung, ohne sich umzudrehen.
Haekwon tat es und es baumelten vier Beine vom Geisterhochhaus, dessen Fenster teils zerborsten waren. Lange Risse, die sich durch seine ganze Existenz zogen.
„Hier komme ich her, wenn ich allein sein will.“
„Warum dieser Ort?“, fragte Haekwon, und ohne Weiteres zog er die dritte Dose aus der Lasche.
„Veraltete Hallen und Hochhäuser erinnern mich an Vergänglichkeit und Unvollständigkeit, deswegen liebe ich diese Orte. Sie passen zu mir. Manchmal fühle ich mich auch unvollständig.“
Nachdenklich blickte Haekwon zum Himmel, auf der Zunge einen schaumig bitteren Geschmack, an den er sich wohl nie gewöhnen würde.
„Da geht´s mir nicht anders, aber ich würde nie auf den Gedanken kommen, in alten Lagerhäusern rumzulaufen.“
Der fahle Kahlkopf drehte sich zu ihm. Ernsthaftigkeit hatte seine Züge versteinern lassen.
„Warum nicht?“
Haekwon nahm noch einen langen Zug, bevor er antwortete, so als müsste er eine Prüfungsfrage