„Hinter … hinter der Ikone. Uah! Hilf mir doch! Ich verblute!“, röchelte Walter mit schmerzverzerrten Gesicht. Der Verrückte ließ ihn endlich los, riss die teure Porzellanikone von der Wand und lachte teuflisch.
„Geht doch, haha! Kombination? Schnell! Sonst andere Hand weg!“, drohte er dem wimmernden Schwerverletzten.
„23121957“, presste Walter mit letzter Kraft hervor und sah noch, wie der sadistische Angreifer seinen Safe öffnete. Dann erlöste ihn endlich die Ohnmacht.
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Im Polizeikommissariat Starnberg herrschte Sommerflaute. Außer einigen Wohnungseinbrüchen, Taschendiebstählen oder Betrugsvergehen hatten Boschi und Jette wenig zu tun. Der Alltag in einem kleinen Kommissariat war wenig aufregend. Jette hatte Zeit für die angesagtesten Schuh- und Klamottenläden rund um Starnberg. Boschi verbrachte viel Zeit in seinem Garten in Schlagenhofen, der nach seinem langen Rehaaufenthalt dringend Pflege brauchte. Eine Woche feierte Jette Überstunden ab und besuchte dabei ihre Eltern in Ingolstadt.
Jette genoss die freien Tage bei ihren Eltern Hilde und Franz. Zusammen besuchten sie den Viktualienmarkt am Theater, kauften frisches Gemüse, aßen Würstel mit Sauerkraut und relaxten nach einer ausgiebigen Shoppingtour gleich neben dem Marktplatz, in einem italienischen Café bei Cappuccino und Kuchen. Jette mochte diese Atmosphäre, die Gerüche und Geräusche an den farbenfrohen Ständen und Buden. Alles erinnerte sie an ihre Kindheit, wie sie ihre Mutter Hilde jeden Mittwoch und Samstag beim Einkaufen begleitet hatte und dafür immer eine Belohnung in Form von Süßigkeiten und Nascherei erhalten hatte. Es war so schade, dass ihre Eltern nicht in der Nähe von Starnberg wohnten. Jette beobachtete einfach das geschäftige Treiben der Marktfrauen und war glücklich. Hand in Hand, wie zwei Teenager, schlenderte sie mit ihrer Mutter später am Liebfrauenmünster vorbei in Richtung Kreuztor, dem Wahrzeichen von Ingolstadt, wo sie mit ihrem Vater Franz verabredet waren, der das langweilige Herumsitzen in den Straßencafés hasste und sich lieber die neu hergerichtete Torstube des Kreuztorvereins anschaute. Während die beiden auf ihn warteten, fühlte sich Jette schlagartig unwohl. Zuerst konnte sie das komische Gefühl nicht zuordnen. Sie hatte den Eindruck, sie würde beobachtet, doch außer einer Frau mit Kinderwagen und drei weiteren Passanten war niemand in der Nähe. Gingen die Emotionen nach den schrecklichen Erlebnissen, gefesselt und allein mit einem fünffachen Mörder, mit ihr durch? Bisher konnte sie die grausamen Mordfälle und die damit verbundenen Geschehnisse immer gut verdrängen. „Die Stube solltet ihr auch mal besuchen. Wirklich sehenswert!“, riss sie ihr Vater aus den Gedanken. „So, jetzt freue ich mich schon aufs Grillen heute Abend. Los kommt, ich habe Hunger.“
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Der Deutsch-Russe Maksin Wolkow suchte die Fichtenstraße in Ingolstadt. Vorm Bahnhof fand er eine Infotafel mit Stadtplan an der er sich orientieren konnte. Die Straße war etwa vier Kilometer von seinem Standort entfernt. Er musste nur der westlichen Ringstraße über die Donaubrücke hinweg bis zum Westfriedhof folgen, dann weiter zur Schwanthaler Straße und schon war er in der Fichtenstraße. Maksin sah mit seinen wirren langen Haaren und der verlotterten Kleidung aus, wie ein hilfsbedürftiger Stadtstreicher mit Alkoholproblem. Die Straße fand er recht schnell in einer biederen Reihenhaussiedlung. Zu jedem Häuschen gehörte ein handtuchschmaler Garten, der von hohen Thujahecken begrenzt war. Die Straße wirkte wie ausgestorben. Er spazierte um den Block, um die Gärten und die Rückseite der Häuser einsehen zu können. Die Thujahecken grenzten nicht direkt an die Parallelstraße. Ein einsamer Spielplatz mit Bäumen und Büschen war den Grundstücken der Reihenhäuser vorgelagert. Grillgeruch von einem gegenüber liegenden Garten stieg in seine Nase. Vorsichtig schlich Maksin von Grundstück zu Grundstück und spähte in die Gärten und Terrassen. Alles war wie ausgestorben. Die Briefkästen quollen vor Werbung über. Genauso wie es ihm sein Freund Alexander berichtet hatte. Die ganze Straße war fast gleichzeitig im Sommerurlaub. Am späten Abend kam Maksin noch mal zurück und kontrollierte verdächtigen Lichtschein in den Fenstern. Behutsam drückte er die Zweige der Hecken auseinander, blickte auf die Häuser und konnte sein Glück kaum fassen. In keinem Fenster in der Straße brannte am Abend das Licht. Wenn alles gut ging, könnte er gleich zwei oder drei Brüche und leichte Beute machen.
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„Gute Nacht! Schlaft gut!“, verabschiedete sich Jette nach dem leckeren Grillabend gegen 22 Uhr von ihren Eltern und ging auf ihr Zimmer, das noch genauso aussah wie vor sechs Jahren, als sie das Elternhaus verließ und in den Polizeidienst eintrat. Ihre Eltern hatten nichts verändert, auf dem kleinen Sofa saß ihre Lieblingspuppe Sara und über ihrem Bett hing immer noch ein Poster von Tokio Hotel. Jette fühlte sich in der gewohnten Umgebung sicher und die schrecklichen Alpträume von Enthauptungen und Menschenopfern, die ihr sonst den Schlaf raubten, waren vergessen, weit weg. Trotz allem legte sie ihre Dienstwaffe, wie immer in den letzten Monaten, unters Kopfkissen. Beruhigt schlief Jette ein.
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Maksin Wolkow schlich, wie eine Katze auf Mäusefang, um die dunklen Reihenhäuser. Er hatte es sich leichter vorgestellt in eines der Häuser einzubrechen. Alle Türen und Fenster hatten die Urlauber vor ihren Reiseantritt fest verschlossen. Noch dazu flackerte die billige Taschenlampe, die er sich zusammen mit neuen Batterien am Bahnhofskiosk gekauft hatte. „Donnerkeil! Pest und Pocken!“,fluchte Maksin leise in die Nacht. Nur ein einziges Kellerfenster war gekippt, doch mit seinem Werkzeug, einem verrosteten Schraubenzieher und einer kurzen Eisenstange, ließ es sich nicht öffnen. Doch Maksin hatte Blut geleckt. Er wollte sich die Chance für ein besseres Leben in Deutschland nicht entgehen lassen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Scheibe einzuschlagen.
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„Klirr!“ Jette schreckte aus ihrem Bett hoch. Kurz nach Mitternacht, Null Uhr 5, zeigte ihr Wecker. Hatte sie nur geträumt oder hatte sie wirklich das Zerbrechen von Glas gehört? Sie wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie im Haus ein dumpfes Geräusch hörte. Jette schaltete die Nachttischlampe an, nahm ihre Dienstpistole und schlich zur Tür, die sie leise und vorsichtig öffnete. Jette lauschte. Hatte sie sich getäuscht? Auf Zehenspitzen ging sie bis zur Holztreppe und zuckte erschrocken zusammen.
„Maadla …“, polterte Franz aus dem Elternschlafzimmer neben ihr.
„Pssst!“ Jette legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und signalisierte ihren Vater, leise zu sein. „Kein Licht, Papa! Da ist jemand im Haus“, flüsterte sie ihm zu. Beide horchten angespannt. Von unten kamen eindeutige Knarzgeräusche.
„Papa, da ist jemand im Keller! Bleib hier, ich geh nachschauen!“
Bevor Jette reagieren konnte, war Franz schon unterwegs und ging kurz entschlossen die Treppe hinunter. „Nix da. Kommt gar nicht in Frage, Kind. Ich geh nachschauen!“
„Paps! Bleib stehen!“, flüsterte Jette ihrem Vater hinterher. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. „Leise! Sei vorsichtig!“ Das fahle Licht des Vollmonds schien durch die Fenster und wies ihnen den Weg nach unten. Im Erdgeschoss des Reihenhauses, in der sich, neben der Küche und dem Wohnzimmer, die Tür zur Kellertreppe befand, schien alles ruhig. Jette drängelte sich jetzt vor ihren Vater und öffnete vorsichtig die quietschende Kellertür. Beide horchten. Stille! Ein kalter Luftstrom blies ihnen entgegen. Jette hörte nur die Grillen im Garten zirpen. „Bist du sicher, dass du die Kellertür verschlossen hast, Paps?“, fragte sie leise.
„Ja, ganz sicher! Ich …“ Plötzlich sackte ihr Vater neben ihr zusammen. „Ah, uah … Hilfe!“ Jette schnellte herum und registrierte in den Augenwinkeln einen Schatten, der blitzschnell auf sie zukam. Instinktiv rollte sich Jette zur Seite und eine Messerklinge steckte plötzlich neben ihrer Schulter im Fußboden. Jette feuerte im Liegen, traf jedoch nur in die Holzdecke. Der Angreifer war durch Jettes Schusswaffengebrauch sichtlich erschrocken, stoppte, machte auf der Stelle kehrt und rannte Richtung Haustür davon. Jette sprang auf, wollte hinterher. „Hilfe, Hilfe!“ In diesem Moment polterte ihre Mutter laut schreiend die Holztreppe herunter und versperrte ihr den Weg. „Ruf die Rettung!“, rief ihr Jette zu, stieß sie unsanft beiseite und lief auf die Straße. Im Schein der Laternen erkannte sie einen großen, schlanken