Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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Brief darüber nach Hause, um über die Reihen von spitzen Zähnen und die milchigen Augen der gefürchteten Tiere zu berichten. Völlig gefesselt beobachtete ich sie, als mich mein Verlobter plötzlich am Arm packte und aufgeregt rief: "Ich habe vergessen, dass die bald schließen. Die haben Platypus hier, wir müssen laufen!"

      "Sie haben was?"

      "Platypus! Du kennst keinen Platypus?"

      "Nein, sollte ich das?"

      "Ja! Ein Platypus hat einen Schnabel wie eine Ente, lebt im Wasser, legt Eier und säugt seine Jungen. Wir müssen einen sehen!"

      Natürlich, jeder kennt Platypus, hab schon immer Platypus gekannt, besonders in Mitteleuropa. Ich fühlte mich auf den Arm genommen. (Inzwischen weiß ich natürlich, was ein Schnabeltier ist, aber in den 70ern gehörte das noch nicht zur Allgemeinbildung.)

      Das Schicksal aber war gegen uns. Das Platypus-Aquarium war geschlossen. Bis zum heutigen Tag haben wir noch keinen lebenden Platypus gesehen. Aber jedes Mal, wenn einer über den Bildschirm unseres Fernsehers schwimmt, erzählen wir dieses Erlebnis und die Tatsache, dass ich dachte, mein Verlobter erfände wilde Geschichten aus dem Stegreif. Inzwischen hat mir der Lektor der englischsprachigen Version dieses Buches, der in Melbourne arbeitet, ein süßes Bild von einem äußerst gemütlich aussehenden Platypus geschickt.

      Die Australier lieben ihren Platypus. Ehrensache!

      Auf einem meiner kleinen Stadtentdeckungsspaziergänge besuchte ich meine erste Opal-Galerie. Sie war innen dunkel. Nur Spotlights schienen auf die Opale und ließen sie in ihren Farben erstrahlen. Auf der Stelle verliebte ich mich in diese Galerie und die Opale. Ich nannte sie die Steine von Tausend und einem Licht. Das Personal versicherte mir, dass australische Opale die besten der Welt seien. Ich schätzte die Geschichte und die Geologie dieser funkelnden, leuchtenden Steine, stellte ihre Qualität nicht infrage. Ich konnte nicht genug von dieser mineralbedingten Schönheit bekommen.

      Auf meinem Heimweg vom Import-Export-Geschäft kam ich immer an einer Opal-Galerie vorbei. Oft ging ich hinein, um wieder einen Blick auf die Juwelen zu werfen. Jedes Mal bedauerte ich dabei, dass ich diese wunderbare Ansicht nicht mit meiner Juwelen liebenden Mutter teilen konnte. Sie blieb immer vor den Juweliergeschäften in München stehen, nur um das Geglitzer im Schaufenster zu bewundern. Sie kannte jeden existierenden Stein, sein Abbaugebiet und seinen Wert. Ich prüfte meine finanziellen Möglichkeiten und kaufte bunte — nicht weiße oder schwarze — Opale, die mich wegen ihrer Farben sehr faszinierten. Meine Mutter sandte einen enthusiastisch klingenden Brief zurück. Sie war begeistert. Danach fühlte ich mich glücklich und seltsam ruhig, dass ich ihr so viel Freude bereiten konnte. Es reduzierte meine Schuldgefühle, dass ich sie in München zurückgelassen hatte.

      Eine andere Quelle des Staunens und Entzückens fanden mein Verlobter und ich durch Zufall an einem Sonntagnachmittag. Damals war unter der Hafenbrücke von Sydney, nahe dem brandneuen Opernhaus, eine Art Kulturzentrum. Dort fanden wir von den Aborigines hergestellte Kunst. Es handelte sich hauptsächlich um zweidimensionale Malerei, geschaffen mit den Farben, die die Wüsten Australien anboten. Gedanken über das scheinbar angeborene Bedürfnis des Menschen nach Schönheit und Ästhetik, zogen mir durch den Kopf. Von jeher hat Homo sapiens sich und seine Umgebung versucht zu verschönern oder wenigstens zweidimensional festzuhalten. Sogar in solch desolater Wildnis hatten Menschen Wege und Material gefunden, sich künstlerisch mitzuteilen, symbolisch oder konkret, und Mentales malerisch auszudrücken. Mit Büchern über Aboriginal Art und ihre Bedeutung kam ich in unser Appartement zurück. Während ich las, nahm der Gedanke das Outback, die Wüsten zu besuchen, Gestalt an.

      Einen solchen Trip zu planen, führte mir die enormen Entfernungen und Dimensionen dieses Kontinents vor Augen. Nur mein Augenmaß auf einer Landkarte zu benutzen, ließ mich stets zu kurz und zu wenig schätzen. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass ich mit europäischen Augen maß. Ich war in einem dicht besiedelten Land aufgewachsen, wo nichts besonders weit entfernt lag. Dieses in meinem Gehirn verankerte Wissen schlich sich in meine Betrachtung australischer Landkarten ein. Aber weil diese Entfernungen so immens waren, kamen wir nicht weiter als bis zu den Blue Ridge Mountains oder Shell Harbor, ein von Muscheln wimmelnder Strand, einige Autostunden südlich von Sidney gelegen.

      Wiederholte Male fand ich kleine, hübsche Beispiele authentischer Handwerkskunst, die ich nach Hause schickte, um meine Familie an meinen Erlebnissen etwas teilhaben zu lassen. Meine Mutter fungierte als Übermittlungsstation.

      Eines Tages fand ich einen Artikel in einer Tageszeitung, welcher über eine Schafschau und einen Wettbewerb der besten und schönsten Exemplare berichtete. Das Bild in diesem Artikel zeigte den größten, mächtigsten, eindruckvollsten Schafsbock, den ich je gesehen hatte. Ich schnitt das Bild dieses Prachtkerls aus und schickte es an den landwirtschaftlichen Zweig unserer Familie. Sie schienen ebenso beeindruckt wie ich und zeigten es den Bauern, die selbst Schafzucht betrieben. Damit erinnerte man sich an mich. Meine Mutter, die Übermittlerin, teilte mir mit, dass ich teils als das arme Mädchen, welches so weit von zu Hause weg leben musste, gesehen wurde. So beratschlagten sie dann, wie man mein Los erleichtern könnte. Man könnte mir ein Fass bayerisches Bier schicken! Einer meiner Onkel machte dann jenes Statement, welches sicher humorvoll gedacht war, aber in der Tiefe doch bezeugte, was meine Familie über meine Abwesenheit und den Ort meines Aufenthaltes dachte: "Da ist sie zu weit von der Brauerei weg."

      Meine Zeit in Australien war nicht nur die Summe von neuen oder aufregenden Erlebnissen. Es war auch nicht nur ein Test meiner Beziehung zu meinem Verlobten. Ich habe Deutschland verlassen, nicht nur weil ich andere Teile der Erde sehen wollte, sonder auch weil ich mit mir selbst nicht im Reinen war. Manchmal fühlte ich mich sogar als Außenseiterin. Ich war auf der Suche nach einer Zukunft, für die ich mich noch entscheiden musste. Durch einen drastischen Wechsel der äußeren Umstände hoffte ich auf Klarheit und darauf, meinen Weg zu erkennen. Dieser Prozess, so meine ich, wurde durch ein Buch, das mir eine Freundin aus Deutschland schickte, ins Rollen gebracht. Es hatte den Titel Der Mensch und seine Symbole, geschrieben von dem Schweizer Psychologen Carl Gustav Jung. Ich las es von der ersten bis zur letzten Seite, langsam, um alles deutlich aufzunehmen. Mein Verlobter hörte meinen Reden darüber geduldig zu und verhielt sich auch herausfordernd, was die Theorien, die Jung aufstellte, betraf. Zum ersten Mal realisierte ich, dass ich ein tieferes Interesse an Psychologie hatte, als mir bisher bewusst gewesen war. Ob der Inhalt dieses Buches oder mein neues Leben in einer anderen sozialen und natürlichen Umgebung der Grund für eine Serie von ungewöhnlichen Träumen war, muss dahingestellt bleiben.

      Die Frau, die mir Jungs Buch geschenkt hatte, insistierte, dass alle meine Träume archetypisch seien. Obwohl mir dieses Konzept des Archetypus damals noch schleierhaft war, merkte ich mir ihre Behauptung, denn intuitiv maß ich diesen Träumen Bedeutung bei. Sie waren zu außergewöhnlich für mich. Schließlich hatte sich mein Leben um 180 Grad gedreht. Ich war auf der Suche nach meiner Zukunft, meiner Berufung sozusagen, und ich mühte mich ab, mein emotionales Gleichgewicht zu halten. Am wichtigsten aber, so glaubte ich, war die physische und soziale Distanz, die sich zwischen mein heimatliches Ursprungsland, meine Vergangenheit und die Gegenwart gelegt hatte. Dieser Zustand verringerte die Notwendigkeit, meine Gefühle über mich selbst und bestimmte Wahrheiten zu verleugnen oder zu unterdrücken, denn die kritischen Stimmen waren weit weg. Unterstützt wurde ich dabei von meinem Verlobten. Er akzeptierte mich wie ich war, versuchte nicht, mich in eine Form zu pressen, in die ich nicht passte.

      Mit der aufrichtigen Rückendeckung von ihm und Carl Gustav Jungs Theorien hielt ich einige meiner Träume schriftlich fest und fertigte für zwei sogar Bleistiftskizzen an. Die vier, an die ich mich erinnere, reflektierten nach meiner Interpretation mein neues Leben (die Haie), meine Herkunft (die märchenähnliche Szene, wie bei den Gebrüdern Grimm), die Suche nach mir selbst (der Wald und das alpine Haus, an dem ich vorbeiging):

       Ich befand mich in einem Haus. Dort schlenderte ich durch einen breiten, langen, mit dickem, weichem Teppich belegten Gang. Dabei kam ich an drei oder vier Zimmern vorbei, die nur auf drei Seiten Wände hatten, aber zum Gang hin offen waren. Eines dieser Zimmer war vollkommen rot ausgelegt. Die Farbe war sehr stark. Die Szene, die ich sah, war eine Märchenszene. Eine Frau stand in der Mitte des Zimmers. Sie trug Kleidung im Stil des