Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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unter- bis überqualifiziert. Seltsamerweise schienen meine sprachlichen Fähigkeiten nicht besonders wichtig zu sein.

      Der Mann, der mich als zweisprachige Sekretärin anheuerte, war ein Emigrant aus Deutschland. Während des Krieges ist er nach Australien ausgewandert, da er als Jude nicht in Deutschland bleiben konnte. Er beherrschte seine Muttersprache noch sehr flüssig und doch klang er nicht mehr ganz ungetrübt wie ein Deutscher. Wegen seiner Nationalität, so erklärte er, wagte er es anfänglich nicht, in den Straßen von Sydney seine heimatliche Sprache zu benutzen. Als Folge waren seine Kinder der elterlichen Sprache kaum mächtig.

      Wie dem auch sei, der Weg zurück, zu psychologischem Gleichgewicht und Selbstsicherheit war steinig und passierte sicher nicht in einer linearen Form. Meine Ignoranz den Details dieser Kultur gegenüber bewirkte oft, dass mich meine Kollegen und andere Menschen verständnislos anstarrten oder sich gar verletzt fühlten. Wer hat die Behauptung erstellt, dass Unwissenheit Seligkeit bedeutet?

      In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an zwei Männer sehr lebhaft. Einer lehrte mich australische Kultur auf die raue Art, der andere schien das mit engelshafter Geduld zu tun. Ersterer führte ein Spirituosengeschäft, so erschien es mir jedenfalls. Es war in einem Hotel untergebracht, welches für mich in keiner Weise so aussah. Denn die Eingangtür führte direkt in eine mit Fließen ausgelegte Beerhall. Unsicher, was die ganze Einrichtung, die ich sah, bedeutete, fragte ich im Liquorstore, ob er denn hier auch Bier verkaufe. "Well, wenn ich das nicht hätte … ", fuhr er mich an. Den restlichen Satz verstand ich nicht, was wohl die Seligkeit war, die Unwissenheit hervorbringen soll. Aber ich verstand den Trend seiner Antwort, besonders nachdem er anfügte: "Wann hast du das Schiff verlassen?" Später bedauerte ich ihm nicht erklärt zu haben, dass in manchen Gegenden der Welt Bier einen zu niedrigen Status einnahm, um in einem feinen Spirituosengeschäft verkauft zu werden. Stattdessen zog ich es vor wegzugehen und meine Wunden zu lecken.

      Der zweite Mann benutzte seine gesamte wertvolle Tea Time, mir eben diese schier geheiligte Tradition australischen Lebens zu erklären. Als ich im Import-Export-Lagerhaus anrief, um eine Nummer zu erfragen, meinte dieser gelassene Mann, er hätte jetzt eben gerade Pause, eben Tea Time. Er versprach danach anzurufen. "Könnten Sie nicht die Teetasse beiseitestellen und mir diese eine Nummer geben? Es dauert nur eine Minute?", fragte ich ihn und kam mir dabei nicht allzu fordernd vor. Später lernte ich, dass dieser Satz durch seine deutsche Syntax im Englischen eine leicht beleidigende Semantik mit sich brachte. Ich fühlte mich beschämt. Bis heute danke ich diesem Mann, der mein Problem verstand und meinen Fauxpas ignorierte. Geduldig erklärte er mir die Bedeutung von having tea im Australien von 1971. Es war eine Zeit, in der man sich ausruhte, mit den Kollegen sprach und alberte, eine Kleinigkeit zu sich nahm und last, not least, vielleicht eine Tasse Tee trank. Tea Time war eine Auszeit und durfte nicht gestört werden, es sei denn von einem uneingeweihten Ausländer oder Neuankömmling, fresh of the boat. Ich war sehr verlegen und vergaß diese Lektion nie.

      Eine ähnliche Freundlichkeit wurde mir zuteil, als ich für den jährlichen Check-up einen Gynäkologen besuchen musste. Der Arzt wurde mir von einer der Ehefrauen der vier Firmenteilhaber, in deren Betrieb mein Verlobter arbeitete, empfohlen. Etwa eine Woche nach meinem Besuch, erhielt ich einen Brief von diesem Arzt. Ich erschrak schon beim Anblick des Umschlages, da ich wusste, dass man in meiner Heimat nur dann schriftlich benachrichtigt wurde, wenn medizinische Notwendigkeit bestand oder man eine Rechnung erhielt. Ich konnte aber kaum glauben, was ich da las: Dear Miss … Sie werden sich freuen zu hören, dass Ihr Vorsorgetest ein gutes Ergebnis erbrachte. Sollten Sie noch Fragen haben … Wir wünschen Ihnen … Das war der einzige Brief solcher Natur, den ich je von einem Arzt erhalten habe, bis — um gerecht zu sein — ich meine Gynäkologin hier in Deutschland gefunden habe. Natürlich verstehe ich, dass Ärzte wenig Zeit für solch persönliche Zuwendung haben, aber es war schön damals. Ich fühlte mich so respektiert, etwas, das ich zu jener Zeit bitter notwendig hatte.

      Als mein Selbstvertrauen in der englischen Sprache wuchs, begann ich auch die Unterhaltungen zu genießen. Gleichzeitig stieg meine Lernkurve in der Cocktailparty-Etikette steil an. Die Ursache dafür war mein Verlobter. Auf einer dieser Stand-up-Partys wurde er Zeuge eines Gespräches zwischen mir und einem etwas älteren Paar. An das Thema der Konversation kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an seine kulturelle Unterweisung:

      "Liebling, nicht so scharf!" Ich verstand nicht. "Du streitest", erklärte er.

      "Und warum nicht?", forderte ich ihn heraus. "Die haben ein Statement in den Raum gestellt und wollen meine Meinung dazu hören."

      "Aber niemand möchte es lange diskutieren und zu Ergebnissen kommen. Niemand ist an Fakten interessiert", beharrte er.

      "Aber warum schneiden sie das Thema dann überhaupt an?" Ich war konfus und wusste nicht, ob man nun auf Themen eingehen sollte oder nicht. Es kristallisierte sich aber langsam heraus, dass die Antwort irgendwo dazwischen lautete.

      "Das ist nur Small Talk. Es wird keine tiefe Diskussion über das Thema erwartet."

      "Bitte?"

      Es folgte ein Austausch zwischen uns beiden über interkulturelle Party- und Konversationsgepflogenheiten. In den folgenden Dekaden, so meine ich, wurde ich eine Meisterin des angeregten Gespräches, in dem nicht viel gesagt wurde, wann immer die Kleidervorschrift semiformell oder formell war.

      Nicht jede Fehlanpassung aber zog unangenehme Folgen nach sich. Manche Andersartigkeit ließ ich mit Neugierde und Faszination über mich ergehen. So war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich Weihnachten und Neujahr im Hochsommer erlebte. Mit viel Spaß stellte ich mir vor, was alles passieren konnte, wenn das deutsche Sprichwort Das geschieht erst, wenn das Neujahr auf den Sommer fällt! wahr werden würde. Da ich nun südlich des Äquators war, ist das am 48. Grad nördlicher Breite Unmögliche wahr geworden. Ich ließ alles, was ich in diesem Zusammenhang verweigert, verschoben oder verleugnet gehört habe, Revue passieren. Es war ein ziemlich albernes Durcheinander in meinem Kopf.

      Meine Assoziation mit Nikolaus und Weihnachten aber war und ist Schnee und Eis. Sydney war sehr weihnachtlich herausgeputzt. Über den Straßenschluchten hingen Plastiktannenbäume, die im Wind schaukelten und in der Sonne blitzten. Die Auslagen der Geschäfte waren mit Santa-Claus-Figuren, die mit schweren Stiefeln in weißem Winterwunderland standen, dekoriert. Wie zu Hause! Trotzdem aber weigerte sich mein Gehirn sommerliche Hitze mit weihnachtlichen Gefühlen zu verbinden. Christbaum, Kälte und Schnee waren eine untrennbare Verbindung mit meinen Erwartungen eingegangen. So genoss ich denn einen exotischen Weihnachtstag an einem der wunderschönen Strände Australiens. Daran gewöhnte ich mich schnell. Im Sand liegend aber entwarf ich schon den Brief, den ich an meine Familie zu Hause schicken würde. Ich konnte schreiben, dass die Erde tatsächlich rund war.

      Am Neujahrstag waren wir beide von einem der vier Chefs meines Verlobten zu einem Neujahrsempfang in dessen Haus eingeladen. Die Luft war an diesem Tag heiß und feucht. Alle Türen und Fenster des Hauses waren geöffnet, um es den Gästen durch eine Brise so angenehm wie möglich zu machen. Ein leichter Wind umfächelte mich. Meine Haut fühlte sich klebrig an. Meine Sommerkleidung, für mitteleuropäische Sommer durchaus das Richtige, wurde von den Kennern des Sydneysommers kritisch beurteilt. Unter all diesen lieben Menschen, die sich um uns sorgten und, siehe da, in Abwesenheit von Small Talk, vergaß ich den Grund für die Einladung. Ich fühlte mich genau wie auf einer schönen Sommerparty. In der Tat, ich musste mir ins Gedächtnis zurückrufen, dass es der Neujahrstag — 1. Januar 1972 — war, den wir feierten. Unter den exotischen Umständen, ohne Schnee und Minustemperaturen, hätte man mich leicht zum Narren halten können!

      Und so wurde der steinige Weg der Anpassung langsam etwas leichter. Wir hatten die Notwendigkeiten des Lebens arrangiert, somit blieb mehr Raum anderes Interessantes Australiens zu entdecken. Flora und Fauna auf diesem ungewöhnlichen Kontinent hatten unsere volle Aufmerksamkeit. Ersteres war leichter zu beobachten als Letzteres. Es gab keine Kängurus, die durch die großen, relativ natürlichen Stadtparks hüpften. Und keiner von uns beiden war mutig genug sich in die Wellen von Bondi Beach zu stürzen, um Haie zu beobachten. Nicht mal ein Koalabär saß irgendwo oben in den Ästen der Eukalyptusbäume. Aber alle diese Tiere hielten sich im Sydney Zoo auf.