Reginald. Johs. Georget. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johs. Georget
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004113
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Weit und breit kein Lichtblick. Vorbei die Zeit des unbeschwerten Frohsinns und des puren, strahlend-leuchtenden Glücks. Alles war so trostlos und so leer, so ohne jeden Sinn. Und klamm war’s hier, im einst so trauten Kobel, unheimlich und beklemmend. Und still.

      Reginald kam sich genauso verloren, vergessen und von aller Welt verlassen vor, wie zu fühlen er bei sich beschlossen hatte. Seine erhofft, erträumt, erwünschte Welt gab es nicht mehr. Sie wollte einfach nicht so sein – was also sollte er sich um die Welt scheren? Nein, er wollte keine Hilfe, keinen Trost, keine Hand, die ihm sanft über das Köpfchen strich, keinen Arm, der ihn an sich drückte, keine Brust, an der er seinen Tränen freien Lauf lassen konnte. Nein, er wollte unerschütterlich in seinem Unglück sein und verharren – bis an den jüngsten Tag.

      Viele Tage lang schon war seine Kobeltür verschlossen geblieben. Niemanden rief er zu sich herein und niemand getraute sich, den sich der Einsamkeit Hingebenden in seiner selbst gewählten Askese zu stören. Die Tiere des Waldes mieden die Gegend um den Wohnbaum von Reginald, denn sie meinten, ihn, den so tief Getroffenen, in seinem Unglück nicht stören zu dürfen. Einige glaubten auch, der Anblick fremden Glückes könnte den Freund früherer Tage noch tiefer in Einsamkeit und Unglück stürzen. Andere wiederum waren der Ansicht, dass ihr eigenes kleines bisschen flüchtiges, instabiles Glück sich im Angesicht eines solchen Häufleins Unglück verflüchtigen könne und in sich selbst zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Einig hingegen waren sich alle in ihrer Fassungslosigkeit über diesen Wandel des sonst so herzerfrischend fröhlichen Gemüts von Reginald Eichhorn und der bangen Frage, wie dies um alles in der Welt nur habe geschehen können und schlugen kopfschüttelnd einen weiten Bogen um den Baum, sowie sie seines auch nur von Ferne ansichtig wurden.

      So kam es, dass sich dieses Gefühl des Verlassen-Seins in Reginald immer mehr verfestigte, ja immer mehr verfestigen musste, wie das diese Vorhersagen so an sich haben, die man sich selber macht und die sich dann auch wie von selbst erfüllen. Und weil es immer stiller wurde rundherum um ihn. Fern waren Käfergesumm und Vogelgezwitscher, kein Spechtklopfen drang an sein Ohr. Nicht auch nur ein einziges noch so kleines Tier ließ sich vernehmen. Kein Geräusch, außer dem bangen Klopfen seines ungetrösteten Herzens. Weil sie alle seine Nähe mieden.

      Bis auf einen. Doch der verhielt sich still, wartete ab, zunächst, weil: Zeit, so meinte er, heilt Wunden. Ja, je, das tut sie, wohl. Jedoch die Narben bleiben. Immer.

      Ganz selten verließ Reginald nur seine Bleibe. Zuhause wollte er es gar nicht mehr nennen. Die Freude, die er empfand, als er geglaubt hatte, seinen Wohnwald mit dem Herzen erkannt zu haben, war dahin, ebenso der Stolz, der seine Brust hatte schwellen lassen, als er seinen eigenen, kunstvoll geflochtenen Kobel im schönsten, größten und würdevollsten Baum des Waldes mit eigener Pfote fertiggestellt und eingeweiht hatte, mit einem Fest, zu dem sie alle geladen waren. Damals waren alle Waldbewohner gekommen, um ihn zu beglückwünschen und in ihrer Gemeinschaft willkommen zu heißen. Und alle waren sie seine Freunde geworden. Hirsch und Hase, Igel und Egel, Laus und Maus, Reh und Regenwurm, einfach alle. Alle hatte er geliebt, von allen war er geliebt worden, und so hatte er sich aufgenommen gefühlt im Bündnis der Bewohner des Waldes, seiner neuen, selbst gewählten Heimat.

      Wenn Hunger und Durst ihn allzu sehr quälten, stahl er sich in der späten Dämmerung des Abends oder der frühesten des Morgens verstohlen aus dem Kobel heraus und in den Wald hinein, wo er von den verbliebenen Resten seiner im vergangenen Herbst angelegten Speicher zehrte. Keinen Blick hatte er für all das Schöne, was ihn umgab, stets nur hängenden Kopfes hoppelte er auf schnurstracksem Wege vom Wohnbaum zu einem seiner Verstecke um dort ein Weniges zu fressen und einige Vorräte mit in den Kobel zu nehmen, dann zur Tränke, nur darauf bedacht, dass ihm auch ja niemand über den Weg liefe, und schließlich auf kürzestem Weg zurück.

      Wer ihn dabei beobachtete, verhielt sich still und hielt sich fern. Und es stahl sich die eine oder andere Träne beim Anblick dieses jämmerlichen, gebrochenen Geschöpfes aus dem einen oder anderen Auge. So manche Schwingenspitze und so manche Pfote wischte diese Träne ohne Scham und in tief empfundenem Mitleid um dieses arme, einsame Wesen fort. So mancher Blick verschleierte sich und wandte sich voller Trauer ab, und bar jeder Hoffnung zuckte so manche Schulter unter machtlosem Erbeben.

      Vollmond war gewesen, als das Unglück über Reginald hereingebrochen war. Inzwischen hatte der Mond abgenommen, war gänzlich fort gewesen, zu einer schmalen Sichel neu erwacht, hatte sich zusehends wieder gefüllt und gerundet. Enno hatte seinen Freund von seiner hohen Warte aus zu keiner Zeit aus den Augen gelassen. In der Nacht, als der Mond wieder seine ganze Fülle erreicht hatte, wurde es ihm dann doch zu bunt und er meinte, es sei nun endlich an der Zeit etwas zu unternehmen. So konnte, sollte, durfte es nicht weitergehen. Wenn Reginald sein Schicksal nicht selbst in die Pfote zu nehmen gedachte, dann durfte, ja musste er als sein bester Freund dies wohl tun. Nun ja, nicht in die Pfote, schon klar, in die Klaue, aber dafür umso fester und endgültig.

      So schwang sich Enno denn heimlich und auf leisen Schwingen auf den Ast, in dessen Gabel Reginalds Kobel verankert war und begann einen leisen Monolog.

      „Schon lange vor dem Beginn allen Seins, kurz nach dem Anbeginn der Zeiten, lange noch bevor die Welt, der Wald und überhaupt auch nur ein Wesen existierte, gab es nur ein ES. Und weil es so gar nichts zu tun gab, machte sich das große ES so seine Gedanken, was es den tun könne, um seine Langeweile zu vertreiben. Nichts war um ES herum als nur leere Ödnis und öde Leere, durch die der Wind ungehindert hindurch pfeifen konnte. Stets machte er Fff, Fff, Fff, und dieses Fff, Fff, Fff füllte die gesamten Gedanken des ES aus. Das ging ihm furchtbar auf die Nerven. Da dachte sich das ES, es könne ja vielleicht eine Welt, einen Wald und auch ein paar Wesen schaffen, die zum einen den Wind bremsten, dass ihn dieser nicht mit seinem ewigen Fff, Fff, Fff bis in alle Ewigkeit nerven würde. Zum anderen könne ES mit der Welt, dem Wald und den Wesen auch etwas Kurzweil haben, die ihm die Langeweile vertriebe.“

      Zunächst hatten Reginalds krummbeinige Gedanken sein ganzes kleines Gehirnchen bevölkert und waren darin rumorend hin und her und rundherum gehumpelt und hatten für nichts anderes mehr, schon gar nicht für die kleinste freundliche Wahrnehmung, auch nur den geringsten Platz gelassen. Nicht das Ausschlagen der Bäume hatte er gehört, nicht das Aufbrechen der Knospen vernommen, nicht den betörenden Duft der daraus hervorbrechenden Blüten erschnuppert, nicht verspürt, wie die wohltuende Wärme der Frühlingssonne immer stärker geworden war, wie sich das Grün Bahn brach und siegreich das Grau des Winters verdrängte, wie das Blätterdach des Waldes sich schloss und wie frisches Grün mit Blüten in Hülle und Fülle die schwere Pracht eines nahenden Sommers angekündigt hatte. Doch die leise, sanfte, eindringliche Stimme seines Freundes forderte leise, sanft und eindringlich Zutritt zu seinem Unbewussten und fand ihn und wand sich, wie ein unsichtbarer Nebel zunächst, zwischen, durch und über das unholde Gedankengezücht, legte sich, wie ein leiser, leichter Schleier darüber und begann es zu umgarnen und schließlich, dichter werdend, festzuhalten und nicht mehr loszulassen, wie ein Fischernetz seinen Fang. Reginalds Gehirnchen begann wieder ganz von selbst zu arbeiten und kleine Bildchen zu Ennos Geschichte zu malen, von der er zunächst glaubte, dass sie sein eigener Traum sei. Die Bildchen begannen sich zu bewegen, begannen laufen zu lernen und schließlich setzte sich die Geschichte wie ganz von selber fort.

      „Das ES hatte sehr viel Zeit und noch viel mehr Geduld. Schließlich war ES die Ewigkeit selbst und so kam es ihm auf ein paar Äonen nicht an. Gewissenhaft also überlegte es, was es denn schaffen wolle. Und da strömten ihm viele Ideen zu. Alles, was heute die Welt bevölkert und vieles andere, was schon seit langem vergangen ist und anderes, was in ferner Zukunft sein wird, nahm in seinen Gedanken Gestalt an.“

      Ein um das andere Tier des Waldes hielt beim Vernehmen von Ennos Stimme in seinem Tun inne, wandte sein Haupt der Quelle seiner Worte zu und schritt, flog, hoppelte, kroch oder wand sich, wie von einem bezaubernden Banne gezogen, dem Wohnbaum in möglichster Stille entgegen. Uhu, Eule und Kauz machten es sich auf einem Baum gegenüber bequem, wo sie auf einem Ast, dicht aneinander gedrängt wie die Orgelpfeifen, Ennos Vortrag lauschten. Nicht weit von ihnen ließ sich eine Rabenfamilie nieder und an dem Zweig darüber hängten sich die Fledermäuse Hufeisennase und Glattnase einverträglich kopfunter dicht nebeneinander auf.

      „Statt aber gleich drauflos zu formen, überlegte das ES, was denn das