Reginald. Johs. Georget. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johs. Georget
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004113
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Verspeisen seiner Beute hatte er allzu oft erlebt, dass die es zuvor nicht anders gemaulhabt hatte. Im Inneren vieler Fische waren angedaute Reste kleiner Fischlein vorzufinden. Eines seiner Opfer, ein Hecht, hatte sich unmittelbar bevor er ihm in die Fänge geraten war, einen Hecht fast gleicher Größe einverleibt! Dies, so meinte Enno, konnte nun ganz und gar nicht rechtens sein. Obwohl, das wusste er leider, selbst wenn er es vehement zu verdrängen suchte, Brudermord in mageren Jahren selbst auch in adligsten Adlerfamilien von bester Gesellschaft vorkam. War das nun Böse? Wo es doch dem Überleben wenigstens eines der Adlerjungen diente? Oder war es Gut? Weil sonst nämlich die gesamte Brut jämmerlich verhungert wäre?

      Der Inbegriff des Bösen, war Enno sich sicher, war er selbst für alle Fische, stoben sie doch in alle Richtungen auseinander, sowie sein Flugschatten über die Wasseroberfläche glitt. Die kranken, die schwachen, die unvorsichtigen blieben als mögliche Beute zurück. War er vielleicht dazu gut? Dass er die Auslese in der Natur unterstützte? Für wen sonst er gut war (Reginald mal ausgeklammert) wusste er nicht so recht, aber zumindest für eine Adlerin war er es einst gewesen. Und für seine Eltern natürlich. Und für sich selbst.

      Ist Gut, meinte Enno, also immer das, was dem, der diesen Begriff zu definieren hat, gut tut? Demnach würde also niemand sich selbst für böse halten? Auch der, der mutwillig etwas zerstört, ohne dass er daraus Nahrung zieht? Wer war es überhaupt, der Gut als Gut und Böse als solches und damit Recht und Unrecht definierte? Wer war der Schöpfer der Moral? Und war Moral gleich Recht?

      War denn der Storch nicht gut, der einen Frosch von der Wiese auflas, um seine Jungen zu füttern? Und was sagte der Fuchs dazu, der dann und wann auch gern ein Fröschlein vertilgte, und darum den Storch mit Futterneid beargwöhte, ihn nach Möglichkeit gar aus seinem Revier vertrieb? Und was sagte der Frosch dazu? Und waren Storch und Fuchs, aus Sicht der Mücke, die nun den Frosch nicht mehr zu fürchten hatte und sich zudem, je nach Gefallen, am Blut von Vogel oder Säuger laben konnte, nicht geradezu ein Sinnbild höherer Gerechtigkeit?

      Nun, Störche, Füchse, Frösche, Mücken unter sich würden dies wohl jeweils ähnlich werten, weswegen es unter den Störchen sicherlich eine stillschweigende Übereinkunft, eine spezifische Moral gab, dass Frösche ihre naturgemäße Nahrung seien. Unter Fuchsens war die Anwesenheit der Storchs im Allgemeinen unbeliebt und deren Vertreibung daher moralisch zulässig. In jeder Familie Frosch wurden die schauerlichsten Geschichten von Fuchs und Storch erzählt, die endeten mit „... und die Moral von der Geschicht: Vertraue Storchs und Fuchsens nicht“, so dass die Jungen, als Quappen bereits, beim Anblick eines jeden nur ähnlich wirkenden Schattens sofort das Weite suchten um sich zu verstecken, oder aber in Totenstarre verfielen.

      Lag Gerechtigkeit denn etwa einzig und allein im Auge des Betrachters? Gab es also Gut und Böse gar nicht wirklich? Gibt es da überhaupt eine absolute Trennung? Oder war diese Frage obsolet? Weil einfach nur Ausdruck subjektiver Wertung? Gab es denn dann gar keine höhere Moral? Legte die nur der fest, dem sie selber gut bekam?

      Wahrscheinlich. Und so hatte Enno beschlossen, dass dieser kleine, wuschelige Nager seinem Gemüt gut bekam und so war es gekommen, dass Enno sich Reginald insgeheim zu seinem Schützling auserkoren hatte. Immer hatte er ein Auge auf ihn und ein Ohr für seine Stimme und war schon beim kleinsten Anschein von Bedrängnis wie zufällig zur Stelle, so dass Reginald häufig gar nicht einmal bewusst wurde, welche Gefahr über ihm geschwebt hatte.

      Hoch hinauf also turnte Reginald eilig am Wohnbaumstamm bis in die Wipfelspitze, die höchste des ganzen Waldes. Oben angekommen betrachtete er wonnig, wie sich die Sonne fast unmerklich aber unaufhaltsam über den Horizont hievte und versank in der ergötzlichen und philosophischen Betrachtung, dass, wenn ein Schöpfer dieses Szenario habe planen können, ohne vorher selbst etwas so schönes je gesehen zu haben, er ja wohl überdies auch noch ein großer Künstler müsse sein.

      Nachdem der Sonnenball nun vollkommen und rund geworden war, riss er sich mit einem Glucks-Glücks-Seufzer von diesem Anblick los und ließ seinen Blick das ganze Panorama aufnehmen. Von hier aus konnte er den Blick schweifen lassen und rundum alle Horizonte sehen, alle Baumwipfel des ganzen Waldes und noch viel weiter darüber hinaus und die vielen anderen Wälder und die fernen und die nahen Gewässer und die ganze große weite Welt. Und den ganzen großen Himmel, der die große weite Welt beschützte. Und ganz besonders steigerte seine Freude, was er nicht erblickte. Kein einziges Wölkchen war nämlich zu sehen und der Himmel so blau, dass man einfach vor Wonne vergehen musste, und das nicht nur, wenn man ein Eichhorn war. Dies heute würde wohl der erste richtig warme Tag des neuen Frühjahrs werden und, wenn der Schein und die Wetterregeln nicht trogen, würde es bis hin zum Abend allerschönstes Wetter bleiben. Die Vöglein hatten das anscheinend schon vor ihm bemerkt und jubilierten vor Freude auf den Tag, ein jedes sich selbst übertreffend, um die Wette. Reginald sog geräuschvoll von der aromatischen Frühlingsluft so viel ein, wie er konnte, ließ ein wohliges „Hääächchch“ seiner Kehle entströmen, holte nochmals tief Luft, die wundervoll nach Veilchen, Anemonen und Bärlauch duftete, nahm dann Anlauf und sprang mit einem weithin hallenden Jauchzer und fühlte sich so frei wie die Vöglein und steuerte mit seinem prächtigen Schwanz von Ast zu Ast, nur jeweils ganz kurz aufsetzend um von neuem so weit zu springen, wie es ihm nur irgend möglich war. Unterwegs, etwa auf halber Höhe des Baumes, machte er halt bei Frau Amsel, die ihn zu sich gerufen hatte „Guten Morgen du Eichhörnchen“

      „Guten Morgen, Frau Amsel. Aber Bittebittebitteschön, sehen Sie’s denn nicht? Ich bin doch schon groß, ein richti-ke-ke-s Eichhorn und ke-ke-kein Hörnchen mehr. Über den Winter bin ich ke-ke-gaaanz gaaanz groß gewachsen und hab schon Pinsel auf den Öhrchen!“

      „Ja, ja, verehrter Herr Eichhorn Reginald, du bist ja völlig aus dem Kobelchen! Möchtest du vielleicht ein Frühstücksei? Aus Versehen hab ich eins zu viel gelegt, und du weißt doch wie der Herr Amsel im Vorjahr genervt war, als wir mehr als sechs Junge hatten, weil er sich doch immer die vielen Namen nicht merken kann.“

      „Oh gerne, Frau Amsel, das krönt mein Frühstück, so ein Frühstücksei, wo’s das doch so selten gibt. Das macht aus diesem Silbertag einen richti-ke-ke-ken Goldtag! Ich will eure Jungen dann auch vor der Schlange schützen und ihnen die besten Ke-ke-Käferstellen zeigen, die es im ganzen Wald gibt, und die allerfettesten Würmerchen und die saftigsten Raupen. Und hier“ er griff in seine Futterbackentasche „hier habe ich noch ein paar Fichtensamen. Bitteschön!“

      „Bitte“ sagte auch die Amsel und gab Reginald das Ei und „Danke“ sagte Reginald und nun begann das Ritual, das Reginald mit seiner Freundlichkeit im ganzen Wald verbreitet hatte. „Bitteschön“, „Dankeschön“, „Bittesehr“, „Dankesehr“, „Bitteschönsehr“, „Dankeschönsehr“, „Bittesehrschön“ und „Dankesehrschön“ lösten einander ab und sie klopften einander bei jedem Wortwechsel auf die Schultern, bis sie schließlich in unbändiges Gekicher ausbrachen, sich vor Lachen die Bäuchlein halten mussten und so lange Tränen lachten, bis es wieder gut war.

      Für den Unkundigen war das allerdings als aufgeregtes Gekecker und Gepiepe zu vernehmen, so dass der annehmen musste, hier sei der allertollste Streit einer beraubten Vögelin mit einem bösen Eierdieb im Gange.

      Doch dies war nur das ständige Geben und Nehmen der Natur, die ständig und unaufhaltsam, scheinbar planlos im Überfluss schuf, wo eines, das sich ungehemmt und unvermindert mehrte schon bald so überhand nahm, dass es sich selbst Feind werden musste. Was wohl, würden all die hunderttausenden Fallschirmsamen einer Butterblumenwiese neue Butterblumen mit wieder neuen Fallschirmsamen? Was, würde jede Eichel ein neuer Baum, der wieder Eicheln würfe? Was, würde jede Maus ein Methusalem mit fünf Würfen im Jahr und jeweils fünf Jungen, die ihrerseits schon bald selbst jungen würden?

      Nein, nein. Darin lag schon ein Plan. So war der Verlust des einen – hier der des überzähligen Amseleies – das Aufgehen in der Erhaltung und dem Wachstum des anderen – Reginalds Bäuchlein.

      Reginald nahm sein Frühstücksei, stopfte es sich in seine Futtertasche und begab sich schwungvoll hinab auf den Waldboden, zu einem der Futterverstecke, die seinem Gedächtnis noch nicht entfallen waren und gönnte sich ein himmlisches, diesem Goldtag angemessenes Frühstück, bestehend aus ein paar Kiefernsamen, zwei Eicheln und einer,