„So eine Karte ist allerdings nicht billig“, fügte er dann hinzu, wobei er den Kopf schieflegte wie ein Vogel, der einen Wurm ins Visier nimmt. „Fünf Taler!“
„Bei diesem Preis will ich doch erst sehen, ob dies wirklich die rechte Ware ist“, erwiderte Michael. „Öffnet die Rolle, damit ich einen Blick auf die Karte werfen kann.“
Die Wahrheit war, dass Michael nicht mehr als einen Taler bei sich trug, doch er musste Zeit gewinnen, um sich etwas einfallen zu lassen,
Der Händler öffnete das rote Band und entrollte die Karte vor den Augen des Guten Träumers. Tatsächlich war es eine Karte des Reiches. Soweit Michael dies überhaupt einschätzen konnte, war es auch eine recht neue Karte. aber in dieser Hinsicht musste er Mikos vertrauen, auch wenn dieser nicht wie ein Mensch aussah, dem man vertrauen durfte.
„Gut, ich werde die Karte nehmen“, sagte Michael nach kurzer Betrachtung.
„Wie gesagt, fünf Taler.“
Fünf Taler für eine Karte waren Wucher. Als das Reich noch nicht vom Traumlord beherrscht wurde, war eine Karte für weniger als ein Zwanzigstel dieses Preises zu haben. Aber jetzt regierte der Traumlord und eine Karte hatte ihren Preis!
Michael griff in die Tasche, legte eine Münze auf den Holztisch neben der Tür zum Laden und sagte: „Bitte, aber die Preise sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“
„Harte Zeiten“, erwiderte Mikos und nahm die Münze.
Michael hatte erst mit dem Gedanken gespielt, dem Händler eine Zehn-Taler-Goldmünze vorzugaukeln, aber dann hatte er sich entschieden, dass dies nicht nur zu dick aufgetragen wäre für seinen Aufzug (‚verdächtig, der Typ ist verdächtig‘), sondern dass es ihn auch auf eine Stufe mit diesem schmierigen Betrüger stellen würde. Also zahlte er mit einer erträumten Fünf-Taler-Goldmünze und verabschiedete sich.
„Empfehlen Sie mich weiter“, sagte Mikos, als sich Michael wieder auf sein Pferd schwang. Dabei machte er eine Verbeugung, die so tief war, als wolle er Michaels Pferd die Hufe küssen. „Es ist eine harte Zeit, es kommen nur wenige Kunden.“
‚Das glaub‘ ich gern‘, dachte Michael, dann ließ er seinem Pferd die Zügel und ritt im Galopp davon. Wenn er weit genug entfernt war, würde statt der Goldmünze ein Nickel auf dem Tisch des Händlers liegen – das Zehntel eines Talers.
Wenn Michael jetzt, jenseits des Waldes der ewigen Finsternis, an diesen Händler dachte, musste er unwillkürlich lachen. Er war ein betrogener Betrüger geworden und das bereitete dem Guten Träumer Vergnügen.
Er breitete die Karte vor sich aus, trug mit einem Rotstift die zurückgelegte Wegstrecke des vergangenen Tages ein, markierte mit blauer Farbe das neue Tagesziel und stellte fest, dass er Asgood in vermutlich drei Tagen erreichen würde. Dies setzte voraus, dass die Brücke, die in der Karte verzeichnet war, noch existierte.
Zufrieden mit dem an jenem Tag erreichten rollte der Gute Träumer die Karte wieder zusammen. Danach warf er noch etwas Holz ins Feuer und legte sich nieder. Im Wald riefen Tiere mit heiseren Stimmen, Vögel der Nacht kreischten und Zikaden musizierten auf der Wiese um die Wette. Dennoch fiel der Gute Träumer bald in tiefen Schlaf.
V .
Sylvester blickte aus dem Fenster seiner Wohnung im ersten Stock. Aufmerksam verfolgte er die Vorgänge im gegenüberliegenden Haus. Robert, dieser drahtige Mittfünfziger, hatte wieder einmal Gäste. Gut, Gäste zu haben war kein Verbrechen, aber solche Gäste …
Es waren fünf, und es waren allesamt finstere Gestalten. Es waren Männer, die sich in dunkle Umhänge hüllten. Sie trugen Masken vor den Augen, und wenn Sylvester allen seinen Büchern Glauben schenken durfte, sahen sie genauso aus wie gedungene Mörder.
Robert war vor einem halben Jahr auf die Insel gekommen, und vom ersten Tage an beobachtet Sylvester ihn voller Furcht und Misstrauen. Keiner auf der Insel wusste, woher dieser Mann gekommen war, keiner wusste, was er hier trieb und wovon er lebte.
Vor etwas mehr als zwei Wachen hatte das seltsame Treiben begonnen. Täglich waren merkwürdige Gestalten in Roberts Haus ein- und ausgegangen. Sylvester wusste nicht, ob es stets dieselben Männer waren oder immer andere, denn meist waren sie maskiert.
Einen hatte Sylvester allerdings wiedererkannt. Er war an zwei aufeinanderfolgenden Tagen bei Robert gewesen. Er war ein kleiner rundlicher Mann mit rundem Schädel gewesen. Auffällig war aber vor allem seine Haartracht. Am ersten Tag hatte Sylvester zunächst angenommen, der Unbekannte hätte eine Glatze, doch als der Mann dann in der zweiten Nacht direkt unter Sylvesters Fenster vorbeiging, er klimperte dabei unablässig mit Münzen in seiner Hand und lachte, erkannte Sylvester, dass die Haare nur kurz wie Stoppeln geschoren waren.
Sylvester wusste nicht, wer dieser Mann war. Er wusste auch nicht, was Robert von diesem Mann gewollt hatte. Aber Robert hatte diesem Mann Geld gegeben, dem Klang der Münzen nach zu urteilen viel Geld. Und das Lachen dieses Mannes hatte etwas so Verschlagenes an sich gehabt, dass Sylvester eine Gänsehaut bekommen hatte und ihm ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen war. So lachten nur Gauner der übelsten Sorte.
Jetzt besuchten diese schwarzen, vermummten Männer Robert, und dies war keineswegs beruhigend für Sylvester.
Er lebte seit seiner Geburt vor 45 Jahren auf der kleinen Insel. Er war ohne Beine auf die Welt gekommen. Also konnte er nicht oder nur sehr selten hinaus und verbrachte viel Zeit damit aus dem Fenster seiner Wohnung zu sehen und die Menschen zu beobachten. Außerdem las er viel. Er las Geschichten von Räubern und Mördern, von entführten Prinzessinnen, wilden Drachen und bösen Zauberern. Sein einziger wirklicher Traum war, laufen zu können, doch er war so unerfüllbar, dass ihm der Traumlord diesen ließ. Ein Mann, der nicht laufen konnte, war kein Gegner für den Traumlord.
Bevor der Traumlord gekommen war, war die Insel ein kleines Paradies gewesen. Alle Menschen waren fröhlich. Sie sangen bei der Arbeit, sie tanzten durch die sonnenhellen Straßen, statt zu gehen. Im Sommer, wenn der betäubende Duft tropischer Blüten die Insel einhüllte, kamen Menschen aus dem ganzen Reich auf die Insel, um im dunkelblauen Meer zu baden. Kinder erfüllten dann die Straßen mit ihren Rufen bei wildem Spiel. Aber die Menschen auf der Insel nahmen keinen Anstoß daran.
Jetzt war alles anders. Selbst das Meer war nicht mehr blau, sondern zeigte eine schiefergraue Färbung, die alle Menschen in eine trübsinnige Stimmung versetzte. Die meisten Leute auf der Insel waren ihrer guten Träume beraubt. Sie waren entweder apathisch, willenlos wie Vieh, das man zum Schlachthaus treibt, oder sie wurden aggressiv. Es kam täglich zu Prügeleien auf den Straßen und in den Wirtshäusern der Insel. Es genügte oft, dass einer den anderen nicht oder zu lange ansah, dann begann der Streit und fünf Minuten später prügelte man sich. Immer wieder war dann einer dabei, der ein Messer hatte und es euch hervorzog. Blut besudelte die Insel.
Sylvester sah mit verzweifeltem Blick zum Himmel hinauf. Er betete, dass sich einer fände, der dem Treiben des Traumlords ein Ende bereitete.
Selbst zu den glücklichen Zeiten des Reiches war Sylvester aufgrund seines Leidens ein recht einsamer Mensch gewesen. Aber hin und wieder blieb jemand vor seinem Fenster stehen und sprach mit ihm. Manchmal kamen Freunde zu Besuch, man spielte eine Partie Karten, trank Wein und redete über die neuesten Ereignisse und natürlich über die Träume, die jeder hatte. Jetzt hatte niemand mehr Träume und es gab also nichts, worüber man hätte reden können.
Nur Marie kam noch einmal pro Woche zu Sylvester. Sie war so etwas wie sein guter Geist. Sie versorgte ihn mit Lebensmitteln, machte in den Zimmern seiner Wohnung sauber und an den Nachmittagen fuhr sie ihn mit einem Rollstuhl durch die Straßen und am Strand entlang. In den guten Zeiten war Marie zweimal in jeder Woche zu Sylvester gekommen, doch jetzt hatte sie zu viele Sorgen mit ihrem eigenen, trunksüchtigen Mann, der sie oftmals auf brutale und hinterhältige Weise misshandelte. Marie hatte nie besonders große Träume gehabt. Sie waren bereits genommen worden, als ihre Eltern sie mit dem Sohn von Gregor verbanden. Dieser war schon immer ein grobschlächtiger, herrschsüchtiger Kerl