Der Weiße Ritter ritt dem Monster entgegen und beide trafen zehn Schritte von Michael entfernt aufeinander. Das Traumwesen geiferte und spie Feuer aus seinen Nüstern. Wo der Geifer auf den Waldboden tropfte, verschwand zischend der Teppich aus alten Nadeln und Blättern, und nackte, verbrannt aussehende Erde blieb zurück.
Die Schwerthiebe des Weißen Ritters trafen das Monster, doch sie trafen es offenbar nicht richtig. Die Klinge, mit der man hätte einen Felsen spalten können, prallte von dessen ledriger, bläulich schimmernder Haut ab, als schlüge der Weiße Ritter mit einem Stock auf einen Lederball. Der auf einem langen, sich schlangenartig windenden Hals sitzende Kopf des Wesens stieß nach vorn auf den Angreifer zu. Gelbe, spitze Zähne, mehr als Michael je vermutet hätte, starrten aus dem dampfenden Maul heraus. Der Weiße Ritter wich den Attacken des Monsters aus, versuchte, es von der Seite her zu erwischen, aber blitzschnell hatte dieses den Kopf herumgerissen und griff seinerseits den Menschen auf dem weißen Pferd an. Michael schaute dem Kampf mehr mit Interesse als mit Furcht zu. Er war sich des Weißen Ritters sicher, wenngleich dieses Monster sich offenbar als harter Brocken erwies. Es kam darauf an, war weiter gedacht hatte. Wenn der Kampf einmal im Gange war, konnten weder er noch der Traumlord eingreifen.
Der Weiße Ritter ließ sein Pferd um das Monster herumtänzeln wie ein Kunstreiter bei einer Vorführung, Irgendwo unter dem strahlenden Helm saß ein Kopf und in diesem Kopf jagten sich fieberhaft Gedanken, auf welche Weise dieses grässliche Vieh zu besiegen war. Es musste eine verwundbare Stelle haben. Das waren die Regeln. Und denen konnte sich selbst der Traumlord nicht entziehen. Sie waren ewig und nicht zu brechen.
Vielleicht hatte sich der Weiße Ritter zu sehr in seine Überlegungen vertieft, vielleicht war er nur ein wenig unachtsam. Plötzlich und für ihn überraschend setzte das Monster seinen auf dem langen Hals pendelnden Kopf wie einen Morgenstern ein. Es schlug seinen Schädel, der die Größe eines Bären hatte, gegen die linke Seite des weißen Ritters und schleuderte ihn aus dem Sattel. Der Weiße Ritter landete mit einem Krachen auf dem Waldboden, dass Michael glaubte, die Rüstung würde in lauter kleine Splitter bersten, doch noch war der Weiße Ritter zumindest am Leben und hielt sein Schwert mit beiden Händen umklammert. Er hatte es in jenem Moment fester gepackt, als ihn die Wucht des Anpralls aus dem Sattel schleuderte. Dennoch sah die Lage plötzlich wenig gut für den Helfer des Guten Träumers aus. Als es ihm gelungen war, sich auf den Rücken zu wälzen, stand das riesige Monster über ihm. Mordlust sprang aus seinen schwefelgelben Augen hervor.
Michael sah das alles und dachte daran, dass sein Kampf mit dem Traumlord beendet sein würde, ehe er ihn richtig begonnen hatte. Er sah den Weißen Ritter zerstampft auf dem Waldboden liegen und sich selbst versengt von dem feurigen Atem des Monsters. Michael wusste, dass alle Hoffnungen für die Menschen im Reich schwanden, wenn er starb. Er hatte sich entschlossen, den Traumlord herauszufordern, weil er noch viele gute Träume hatte und wusste, sie einzusetzen. Aber der Traumlord war ein starker, verschlagener und außerdem rücksichtsloser Kontrahent. Diese Kreatur schien unbesiegbar. Es war zu Ende.
Das Monster war stark. Es war riesig. Es hatte eine Haut, die das Schwert des Weißen Ritters nicht ritzen konnte. Und es war dumm.
Da der weiße Ritter zu seinen riesigen Füßen lag, auf dem Rücken und nicht in der Lage ihm auszuweichen, hätte es einfach über ihn hinwegtrampeln und ihn zermalmen können. Aber seine Mordgier war so gewaltig, dass es ihm wohl den Kopf abreißen und diesen verschlingen wollte. Es schoss mit dem Schädel nach vorn und sperrte gleichzeitig den riesigen Rachen auf soweit es konnte. Die Zähne im Maul erinnerten an eine bewehrte Burgmauer. Da erkannte der Weiße Ritter die verwundbare Stelle. Er sah sie ganz deutlich. Am oberen Gaumen pulsierte in regelmäßigem Takt ein Blutgefäß dicht unter der Haut.
Es blieb nur eine Sekunde Zeit, aber für den Weißen Ritter war sie ausreichend. Er stieß das Schwert nach oben in den klaffenden Rachen hinein, durchbohrte die pulsierende Stelle, die er erkannt hatte und rollte sich gleich darauf behände zur Seite, damit ihn das ätzende Blut nicht traf.
Er hatte richtig gehandelt. Die Lebensflüssigkeit des Untiers schoss gleich dem scharfen Wasserstrahl eines Geysirs aus dessen Maul. Der Strahl bohrte ein Loch in den Waldboden, in dem ein Mann aufrecht stehend Platz gefunden hätte. Der Monsterschädel fiel krachend auf den Boden herab, als wäre er vom Rumpf getrennt worden. Michael spürte ein leichtes Beben, als der Kopf aufschlug und wusste, dass der Schlag selbst den Weißen Ritter zerquetscht hätte wie ein Insekt.
Die Augen des Monsters verfärbten sich in ein stumpfes grau. Ein-, zweimal noch peitschte der Schwanz den Waldboden und wirbelte Blätter, Nadeln und Erde auf, dann war es tot. Und kaum war es tot, war es auch verschwunden. Es blieb nur das Loch im Waldboden, das mit einer brodelnden gelben Flüssigkeit gefüllt war und die Spur umgestürzter Bäume auf dem Weg, den es gekommen war.
Der Weiße Ritter erhob sich schwerfällig. Rüstung und Schwert machten ihn in einer Situation wie der eben erlebten durch ihr Gewicht tatsächlich überaus verwundbar. Als er wieder auf seinen beiden Beinen stand (eine Hand stützte sich auf das Schwert), rief er in einer für Michael fremden Sprache sein Pferd. Dies weidete ein wenig abseits, kam aber nun in Windeseile zu seinem Herrn. Hatte es den Weißen Ritter Mühe gekostet, sich vom Boden zu erheben, war es ihm gänzlich unmöglich, wieder auf sein Pferd zu steigen. Also ergriff er es am Zügel und führte es fort aus dem Wald. Er passierte den Guten Träumer und hob den Kopf zu diesem auf. Hinter dem Visier vermeinte Michael zwei lächelnde Augen gesehen zu haben, die ihm viel Glück wünschten. Der Weiße Ritter führte sein Pferd an Michael vorbei und entfernte sich in der Richtung, aus der der Gute Träumer gekommen war. Gewiss war er unterwegs zu neuen Heldentaten. Als sich Michael nach zwei Minuten umwandte, war der Weiße Ritter verschwunden. So musste es sein.
II.
Aranxa lebte bei ihrem Herrn solange sie sich erinnern konnte. Und das waren mehr als zwanzig Jahre.
Ihr Herr war Gladblood. Ein Ritter der Dunklen Garde des Traumlords. Gladblood war reich und hatte nur einen Traum, diesen Reichtum zu behalten und zu vermehren. Um diesen Traum zu erfüllen, war ihm jedes Mittel recht. Solche Untertanen liebte der Traumlord, und er nahm ihnen darum auch nicht ihre Träume, denn es waren dunkle Träume. Träume, die er benutzen konnte.
Auch Aranxa hatte ihre Träume noch. Es war ein Versehen des Traumlords. Er war nicht gut, aber er war auch nicht so großartig böse, dass er unfehlbar gewesen wäre. Er hatte Aranxa übersehen, wie so viele sie in ihrem bisherigen Leben übersehen hatten. Ihr Stand war einfach zu niedrig, als dass man sie sah.
Aranxa lebte bei Gladblood seit sie denken konnte, und genau so lange war sie seine Sklavin. Sie erfüllte alle seine Wünsche, las sie ihm von den Augen ab, noch ehe er die Lippen geöffnet hatte, um sie auszusprechen. Sie schlief in Gladbloods Haus in einer Kammer, die nicht größer war als der Kleiderschrank ihres Herrn, Sie teilte diese Kammer mit Spinnen und Ratten, die Gladblood immer wieder fing und dort hineinwarf. Einmal hatte Aranxa eine Ratte getötet. Daraufhin hatte ihr Herr sie so lange geprügelt, bis sie ohnmächtig zusammengebrochen war.
„Du bist selbst eine Ratte“, hatte er dabei unablässig geschrien. „Und wenn du die Ratten tötest, werde ich dich töten wie eine Ratte.“
Sie war damals zehn oder elf Jahre alt gewesen. Sie hatte seitdem nie wieder einem Tier, das in ihrer Kammer hauste, etwas getan. Anfangs war es ein Burgfriede gewesen. Doch mit den Jahren hatte Aranxa gelernt, mit den Tieren umzugehen, die andere Menschen verabscheuten und fürchteten. Die Ratten, Spinnen und Schlangen gehorchten ihr.
Aranxa hatte nur einen einzigen, wirklich großen Traum. Dieser Traum war das Schloss. Es stand auf einem Felsen hoch über der Stadt Asgood und beherbergte die Prinzessin. Aranxa träumte davon, einmal dort hinauf zum Schloss zu gehen, durch alle Räume zu wandeln und natürlich dort zu speisen. Das, was sie von ihrem Herrn zur Nahrung bekam,