Michael brach von Ramos an einem Frühlingsmorgen, wie er schöner nicht hätte sein können, auf. Die Sonne erhob sich als strahlender Ball aus Gold über den fernen Bergen und goss ihr wärmendes Licht über der grünen Ebene aus. Schmetterlinge, Bienen und allerlei andere Insekten auf der Suche nach süßem Blütensaft berauschten sich an den Düften, die die Wärme weckte. Vögel jubilierten hoch in der Luft und priesen die Schönheit des Frühlings mit ihren besten Liebesliedern. Sie warben umeinander und bald würden vielfach gesprenkelte Eier in warmen, wohlbehüteten Nestern liegen, um von besorgten und eifrigen Eltern liebevoll ausgebrütet zu werden.
Michael wusste, dass auch diese Idylle um Ramos nicht mehr lange währen würde, denn der Traumlord hatte Pläne mit dem gesamten Reich und in diese Pläne passten keine unberührten Wiesen. Michael wusste nicht, woher er diese Information hatte, er wusste auch nicht, was der Traumlord genau vor hatte, aber er wusste genug über diesen Tyrannen, um die Wahrheit dieser Information nicht anzuzweifeln.
Zwei Tage später hatte der Gute Träumer Toulux erreicht. Dort hatte er zum ersten Mal erfahren müssen, dass der Traumlord über alle Aktivitäten im Reich ausgezeichnet informiert war. Er hatte ihm ein Rudel wilde Hunde auf den Hals gehetzt, wie es wilder nicht hätte sein können. Michael hatte für einen winzigen Augenblick geglaubt, seine Reisen, die zum Traumlord und die durch sein Leben im Diesseits, wären zu Ende. Doch dann war ihm ein rettender Gedanke gekommen, der sich tatsächlich als wirkungsvoll erwiesen hatte.
In Toulux hatte Michael den greisen Stephan aufgesucht, den man auch den Weisen nannte. Er hatte noch vor seinem Aufbruch aus Ramos herausgefunden, dass dieser Mann vermutlich der einzige im Reich war, der ihm sagen konnte, wo er den Traumlord fand und wie er ihn besiegen konnte. Wenn Michael jetzt im Nachhinein an seinen Besuch beim Weisen Stephan dachte, kamen ihm die gewonnenen Informationen spärlich, ja geradezu nichtig vor. Aber er wollte nicht undenkbar sein.
Als Michael das Haus des alten Mannes betreten hatte, war ihm sofort der Geruch aufgefallen. Es war nicht der Geruch, den Michael in einer Alchimistenküche oder dem Haus eines Weisen erwartet hätte. Es roch nach Urin und Schmutz. Es roch wie alter Mann.
Stephan war ein alter Mann. Vermutlich lebte er bereits weit mehr als hundert Sommer. Die Zeit hatte eine wahre Gebirgslandschaft aus Falten und Runzeln in sein Gesicht eingeprägt. Der Kopf war völlig kahl und zeigte dunkle Altersflecken. Was Michael sofort auffiel, waren Stephens wasserhelle Knopfaugen, die ihn abschätzend betrachteten, kaum dass er den Raum betreten hatte, in dem der alte Mann saß. Michael glaubte, dieser alte Mann würde in ihm lesen wie in einem offenen Buch.
Das Kinn und die nach unten gebogene Nase des Alten sprangen scharf aus dem Gesicht hervor. Sie kamen sich mit den Spitzen so nahe, dass man sofort an den Schnabel eines Vogels denken musste. Selbst wenn er sprach, war die Täuschung noch immer perfekt.
Stephan trug alte, zerlumpte Kleidung, die vermutlich auch eine geraume Weile keiner Reinigung mehr unterzogen worden war. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem kleinen Teppich mitten im Zimmer auf dem Boden. Aus einem seiner Mundwinkel rann ein wenig Speichel. Das gab ihm einen keineswegs weisen Ausdruck.
Aber die Augen, diese Augen machten Michael klar, dass man ihn nicht zum falschen Mann geschickt hatte.
„Guten Tag, mein Sohn“, begrüßte Stephan seinen Gast. Seine Stimme klang, als säßen eingerostete Scharniere in seinen Mundwinkeln.
„Guten Tag, Weiser, ich grüße dich. Ich, Michael aus Ramos, Sohn des David.“ Michael verbeugte sich so tief vor dem weisen Mann, dass sein Kopf fast den Boden berührte. Man hatte ihm gesagt, dass für Stephan Ehrerbietung alles bedeutet. Geld wollte er nicht, aber Hochachtung.
‚Wenn er mir sagen kann, wie ich den Traumlord besiege, werde ich ihm selbst den Hintern küssen, wenn er es verlangt‘, dachte Michael.
„Nimm Platz, mein Sohn und sage mir, weshalb du zu mir kamst.“
Michael sah sich hilflos um, denn da war nichts im Zimmer, wo er hätte Platz nehmen können außer auf dem Boden. Etwas ungeschickt ließ er sich fallen und versuchte eine einigermaßen bequeme Sitzhaltung zu finden. Im Gesicht des Weisen Stephan zeigte sich ein feines Lächeln, das Michael jedoch übersah. Er war zu sehr mit seinen Beinen beschäftigt.
„Sitzt du bequem?“ War das ein Anflug von Ironie? „Dann sage mir, was du von mir willst, mein Sohn“, erneuerte Stephan seine Frage.
„Ich will den Traumlord besiegen“, platzte Michael heraus „Man sagt, du kannst einem dabei helfen.“
„Ich bin alt, ich bin schwach. Wie sollte ich dir helfen können?“
Michael spürte, dass der alte Mann ihn auf die Probe stellen wollte. Er wusste nur nicht, was für eine Art Probe das sein sollte. Er fühlte sich auf den Arm genommen. ‚Ruhig bleiben, besonnen antworten‘, raunte er sich im Geiste dennoch zu. „Du bist alt, das stimmt, doch du bist weise. Alle Welt lobt und preist deine Weisheit. So sage mir also, wie ich den Traumlord besiegen kann.“
Der Alte lächelte.
‚Prüfung bestanden‘, schoss es Michael durch den Kopf.
„Du musst stark sein und mutig“, begann der Weise Stephan seine Erklärung mit Dingen, die Michael auch ohne ihn gewusst hätte. Die Prüfung dauerte an.
„Gewiss“, erwiderte Michael, „doch deine übergroße Weisheit sieht sicher mehr.“
„Ja“, nickte der Alte. „Stärke und Mut allein reichen nicht aus. Du musst gute Träume haben, nicht nur ein paar, die haben alle. Du musst so viele gute Träume haben, dass sie der Traumlord dir nicht nehmen kann. Du musst ihn ersäufen in guten Träumen.“ Plötzlich war die Stimme des alten Mannes schrill und enthusiastisch. Doch dieser Moment war so schnell vergangen wie er gekommen war. Mit seiner knarrenden Stimme fuhr er fort: „Und du brauchst drei Dinge aus dem Reich, ohne die du den Traumlord nicht besiegen kannst.“
„Welche Dinge?“, platzte Michael ungestüm heraus und dachte im gleichen Augenblick, dass er damit alles verdorben habe. Aber der Weise Stephan überhörte die Unschicklichkeit. Ihm lag auch viel am Ende des Traumlords. Mehr als ein Mensch im Reich ahnte. Er hätte den Traumlord selbst besiegt, wenn er die Kraft dazu besessen hätte.
„Gemach, mein Sohn“, rügte der alte Mann daher nur leicht. „Ich werde es dir sagen. Du brauchst für deine Aufgabe drei Dinge: den Stern von Asgood, den Fels aus der Wüste Gohan und das Buch von Nekros. Suche diese Dinge, nimm sie mit auf deine Reise und du wirst den Traumlord besiegen.“
„Du sprichst in Rätseln, weiser Mann“, sagte Michael. Er hoffte auf mehr Information.
„Dann löse sie“, antwortete der Weise Stephan nur.
„Wo finde ich den Traumlord?“, fragte Michael noch einmal genauer nach.
„Du wirst es erfahren, wenn es an der Zeit ist“, kam prompt die Antwort, die Michael befürchtet hatte.
„Gehe jetzt deines Weges, Guter Träumer, und finde die drei Dinge, die ich dir nannte. Eine Hilfe will ich dir noch geben. Asgood, die große Stadt, liegt im Süden.“ Der alte Mann nickte dem Guten Träumer, er hatte ihn als erster Mensch so genannt, zu und deutete damit an, dass die Unterredung beendet war. Michael zog sich zurück und dachte über die drei Dinge nach, die er finden sollte. Er konnte sich weder vorstellen, was dies für Dinge waren, noch konnte er erkennen, wie sie ihm helfen sollten, den Traumlord zu besiegen. Vielleicht hatte sich der Alte nur über ihn lustig gemacht? So kam ihm die ganze Sache von Anfang an vor. Vielleicht war alles nur ein subtiler Scherz des Traumlords, eine Falle weitaus raffinierter als die Attacke der wilden Hunde?
Während Michael ins Freie trat und, von der Sonne geblendet, schützend eine Hand vor seine Augen hielt, saß der Weise Stephan noch immer auf seinem Teppich