Marsjahr. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783653
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am Laufen halten.

      Der Junge stöhnte auf, als koste ihn jede Bewegung größte Anstrengung. Er nahm die Kassettenhülle und schleuderte sie quer über den Tisch. Sie landete in Pauls Schoß.

      "Misfits - Legacy of Brutality", las Paul die Beschriftung. Ebenso gut hätte ein Satz in Sanskrit draufstehen können. Von der Hülle glotzte ein stilisierter Totenkopf. "Cool."

      "Was immer du sagst." Der Junge verschränkte wieder die Arme vor der Brust. "Was willst du von mir? Ist dir langweilig?"

      Ich will etwas über Joanne wissen. Nicht nur etwas, eigentlich alles, dachte Paul. Sonst würde ich bestimmt nicht mit dir reden.

      Er zuckte mit den Schultern. "Ich dachte, du würdest vielleicht gern ein paar Leute kennen lernen."

      "Falsch gedacht."

      "Ist bestimmt nicht einfach, wenn man neu an die Schule kommt. Da kann man immer Freunde gebrauchen."

      "Freunde?" Er spuckte das Wort aus wie ein altes Kaugummi. "Und ausgerechnet du willst mein Freund sein?"

      "Ist das so abwegig?"

      Als Antwort kam ein Schnauben. "Leute wie du hängen gewöhnlich nicht mit Leuten wie mir rum."

      "Was soll das heißen, Leute wie du?"

      Der Junge zuckte mit den Schultern. "So Mittelklasse-Typen eben."

      "Mit den Mädchen eben hast du doch auch geredet. Mit Joanne und den Croston-Schwestern." Paul erschrak über den Klang seiner eigenen Stimme, wie jämmerlich beleidigt er sich anhörte. Aber die Überleitung war geschafft

      "Die nervigen Puten? Kleine Möchtegernpunks. Die haben mehr mit mir geredet, als ich mit ihnen."

      Der Neue gewann einen Sympathiepunkt. Jemand, der die Crostons als nervige Puten bezeichnete, konnte nicht völlig schlecht sein. Gleichzeitig schrumpfte Pauls Hoffnung, dem renitenten Jungen Informationen über Joanne zu entlocken. Anscheinend gefiel er sich in der Rolle des wortkargen Einzelkämpfers. Paul unternahm einen weiteren Anlauf.

      "Bist du bei einer von denen im Jahrgang?"

      "Hör zu. Ich habe keinen großen Bedarf an Smalltalk. Oder an neuen Freunden. Weißt du, wie viele High Schools ich in den letzten zwei Jahren besucht habe?"

      Paul wusste es nicht.

      "Die Apollo ist Nummer Vier. Da verliert so ein Begriff wie Freundschaft seine Bedeutung."

      Paul dachte an Mark, wie unendlich lange sie sich kannten.

      "Ist es nicht besser, wenigstens für kurze Zeit Freunde zu haben als überhaupt nicht?"

      "Ich komm ganz gut allein klar. Aber wenn es dich glücklich macht, nenn dich mein Freund. Gibt vermutlich Schlimmere als dich."

      Paul nahm es als Kompliment und streckte dem Jungen die Hand entgegen.

      "Also dann... Ich bin Paul."

      Der Neue fixierte die Hand mit dem Misstrauen eines Hundes, der öfter geschlagen als gestreichelt wurde.

      "Kannst mich X nennen", sagte er schließlich, als Paul seine Hand ungeschüttelt zurückzog.

      "X", wiederholte Paul. Hatte er X gesagt?

      "Mein Straßenname. Wie die Band."

      Paul kannte eine Band namens X so wenig wie die Misfits. Er hatte höchstens von Malcolm X gehört, den sie letztes Jahr kurz in der Geschichtsstunde abgehandelt hatten. Jemanden mit einem Buchstaben anzusprechen, fühlte sich seltsam an. Er hielt dem Jungen – X – die Kassettenhülle hin. X ließ den Walkmandeckel aufschnappen, legte die Kassette in die Hülle und gab sie Paul zurück.

      "Kannst dir ausleihen. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft."

      Paul nahm die Kassette, unsicher, ob der Junge es ernst meinte.

      "Okay. Dann...danke...X."

      "Nicht der Rede wert, Paul. War nett mit dir zu reden."

      Bevor Paul sein Interview fortsetzen konnte, hatte X eine andere Kassette eingelegt. Unter dem Gewicht von 90 Dezibel Punkrock rutschte er tief in den Stuhl. Paul sah ihm kurz zu und ließ ihn dann allein. Das Gespräch war beendet, und Paul allein mit der Frage, ob er soeben einen neuen Freund gewonnen hatte.

      -

      Rachels Cabrio, ein gebrauchter Pontiac Sunbird, den ihre Eltern ihr zum 16. Geburtstag in die Auffahrt gestellt hatten, kurvte durch den dichten Mittagsverkehr. Ale beneidete Rachel um diesen Wagen und die Freiheit, die er repräsentierte. Ohne Führerschein galt man in diesem Land, in dem alles fünf Meilen entfernt lag, nicht als vollwertiger Mensch.

      Mit der Begründung, sie müsse ihren Gast an die amerikanische Kultur heranführen, war es Rachel gelungen, Ale frühzeitig aus dem Unterricht zu nehmen. Vermutlich wollte sie sich nur selbst einen verkürzten Schultag gönnen, hatte sie ihrer Gastschwester doch bisher soviel Aufmerksamkeit geschenkt wie einer Seifenoper beim Bügeln.

      "Wohin fahren wir?", fragte Ale.

      "Überraaaschung", krähte Rachel und ignorierte das empörte Hupen des Lieferwagens, den sie gerade geschnitten hatte.

      Fünfzehn Minuten später bogen sie auf den gigantischen Parkplatz des Long Ridge Einkaufszentrums.

      Die Mall – natürlich.

      Wenn Rachel nicht gerade in der Schule oder mit den Apollo Rockettes trainierte, hing sie mit ihren Freunden (und Rachel schien einen unerschöpflichen Vorrat an Freunden zu haben) in der Mall rum. Im Teenagerrudel zogen sie von Shop zu Shop, legten ihr Taschengeld in Textilien an, besetzten die Holzbänke neben den Springbrunnen, und lästerten über weniger privilegierte Mädchen, deren Outfits nicht ihren strengen Kriterien entsprachen.

      Ein einziges, quälendes Mal hatten sie Ale mitgenommen. Stundenlang war sie der lärmenden Gruppe hinterher gezuckelt, ohne dass jemand auch nur den Versuch gemacht hatte, sie in das Geschnatter zu integrieren. Lediglich Rachels Boyfriend hatte hin und wieder eine anzügliche Bemerkung fallen lassen, auf die Ale gerne verzichtet hätte.

      Um nicht völlig als Spielverderber dazustehen, hatte sie die ganze Zeit tapfer gelächelt, bis ihr abends die Mundwinkel schmerzten. Seit jenem Nachmittag verursachte schon der Gedanke an die Mall ein Würgegefühl. In der Hoffnung, dass sie diesmal nicht lange bleiben würden, folgte sie Rachel durch die klimatisierte Konsumwelt.

      "Hey, Dirty Darren kauft auch hier", sagte Rachel, und zeigte in einen Elektronikladen, wo ein graubärtiger Mann in ein Verkaufsgespräch vertieft war. Ale erkannte den Hausmeister der Apollo.

      Rachel blieb kurz an einem Schuhgeschäft kleben, bevor sie auf einen Laden mit farbenfroh verkleideten Schaufensterpuppen zusteuerte. Arlene's Kostümverleih, konnte Ale gerade noch lesen, bevor sie sich in einem Gruselkabinett wiederfand.

      Der Laden war vollgestopft mit Kostümen. Vom bleichen Pappgesicht, das vermutlich Casper das freundliche Gespenst darstellen sollte und nicht einmal einen Dreijährigen täuschen könnte, bis zu hollywoodtauglichen Horrorköpfen aus Latex für dreistellige Beträge wurde jeder Geschmack und Geldbeutel bedient.

      An einem karussellartigen Kleiderständer entdeckte Ale die Outfits bekannter Filmstars – Indiana Jones, Batman, Freddy Krueger. Ein anderer bot haarigen Ganzkörperanzügen für Sportmaskottchen. Auf dem Boden standen Drahtkörbe mit Sonderangeboten - Clownsnasen, Tüten mit Kunstblut und eingeschweißte Komplettsets zum großfamilienfreundlichen Preis. Das Teufelsset zu $14.99 – eine Art roter Taucheranzug inklusive Hörnern, Dreizack und Schwanz! – schien ein Bestseller zu sein und näherte sich dem Ausverkauf.

      Zwischen den Verkleidungen drückten sich aufgeregte Grundschüler herum, im Schlepptau ihre Mütter, denen die Ungeduld fleckig-rot im Gesicht stand.

      Rachel schlängelte sich zur Kasse, wo eine dunkelhaarige Ausgabe ihrer selbst kaugummikauend ihre Nägel bewunderte. Ale erkannte in ihr eine der Freundinnen von dem Tag, an dem sie die Mall hassen gelernt hatte. Nervös beobachtete Ale aus dem Abseits, wie sich die beiden unter