Marsjahr. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783653
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dann war es die ältere Generation, die hier bereits Filme gesehen hatte, als eine Joanne noch gar nicht existierte.

      Eine Tür ging auf. Aus dem dunklen Loch dahinter trat Jack, der schnauzbärtige Projektionist und allererster Angestellte des Cine, der wahrscheinlich schon Ben Hur vorgeführt hatte.

      "In den goldenen Jahren, da war das Filmvorführen noch echte Männerarbeit", pflegte er zu sagen und erzeugte damit bei Paul zuverlässig Bilder eines schweißgebadeten Jacks, der wie ein Tellerjongleur zwischen den acht Projektionsräumen rumwuselte und wagenradgroße Filmrollen auf die Abspielteller wuchtete. Seit jenen goldenen Jahren hatte das Cine-8 mehrfach den Besitzer gewechselt. Eine Kinokette kaufte den ehemaligen Familienbetrieb, nur um ihn einige Jahre später an eine größere Kinokette weiter zu verkaufen. Das Kino wurde herumgereicht wie eine heiße Kartoffel, bis es schließlich als kleinster Teil eines Pakets von einem japanischen Medienkonglomerat geschluckt wurde, dem der Zustand des Cine-8 so egal sein konnte, wie es von Tokio weit entfernt war.

      Das originale Inventar blieb erhalten, obwohl es mit jedem Jahr eine neue Schicht Patina angesetzt hatte und dringend ersetzt werden musste. Dafür schrumpfte die Zahl der Projektionsräume von acht auf sechs, "aus Kostengründen", wie die Japaner in einem knappen Rundschreiben wissen ließen. Aus denselben Kostengründen wurde das Cine-8 nicht in Cine-6 umbenannt und Pauls Gehaltserhöhung entfiel mit jährlicher Regelmäßigkeit. Dafür wurde sein Aufgabenbereich vom reinen Kehrmeister über Kassierer auf Mädchen für alles ausgedehnt.

      Jack nickte Paul zu und lehnte sich neben ihn an den Tresen.

      Dank des geringen Arbeitsvolumens traute er sich immer öfter aus dem Dunkel der Projektionistenwelt in die grell erleuchtete Lobby. Eine Weile lauschten sie dem erschöpften Summen der Popcornmaschine und starrten im wortlosen Einklang durch die Lücke zwischen Batman und Back to the Future II-Plakat auf den leeren Parkplatz. Am Himmel lauerte eine kurz-vor-Regenschauer Atmosphäre. Trockenes Laub strudelte in einem Mini-Wirbelsturm über schillernde Ölpfützen. Es war noch keine 16 Uhr, doch hinter den getönten Scheiben der Lobby lag die Außenwelt in gefühlter Mitternacht.

      Paul fokussierte auf die Verglasung und betrachtete sein Spiegelbild. Wie alle Angestellten (mit Ausnahme von Jack, der keinen Besucherkontakt hatte) trug er die offizielle Cine-Uniform: schwarze Chinos, weißes Hemd mit schwarzer Fliege und rote Weste mit Namensschild, in der er aussah, als würde er jeden Moment Sätze wie "Rien ne va plus" sagen. Oder, wie Mark es unverblümter ausdrückte, oberpeinlich.

      Draußen fing es an, zu tröpfeln.

      "Drecksregen, murmelte Jack.

      Paul witterte eine der Cine- oder Vietnamgeschichten, die für gewöhnlich Jacks Wetterbericht folgten und mit einem nostalgischen Seufzer und Worten wie "Damals" oder "Früher" eingeleitet wurden. Er kannte sie alle, und lenkte das Thema vorzeitig in eine andere Richtung.

      "Was hältst du von Teil 5, Jack?" Paul nickte dem Pappaufsteller zu, der neben der Eingangstür aufgebaut war und für die neuste Fortsetzung der Halloween-Saga warb. Ein überlebensgroßer Michael Myers hielt sein Schlachtermesser bereit zum sinnlosen Töten.

      Jack war ein wandelnder Filmalmanach, der Horrorfilme ähnlich ernst nahm wie Mark. Er stieß ein verächtliches Geräusch aus und warf in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft.

      "Was will man erwarten von der fünften Fortsetzung, wenn das Original ein Klassiker ist? Aber diese hier ist mit der ganz heißen Nadel gestrickt, wenn du mich fragst. Michael nimmt die Maske ab und – weint. Stell dir das mal vor. Michael. Weint."

      "Tsk..." machte Paul.

      Jack nickte.

      Aus Kino Zwei – Harry & Sally – kamen zwei Pärchen und eine ältere Frau, sich die Dunkelheit aus den Augen reibend. Sie sahen ihnen nach, wie sie die letzten Autos vom Parkplatz fuhren.

      "Damals, als Halloween 1 hier anlief -", begann Jack.

      Scheinwerfer streiften Jacks Gesicht. Für einen Moment reflektierten seine Brillengläser das Licht so, dass es aussah, als schossen Strahlen aus seinen Augen. Paul registrierte das altvertraute Bremsenquietschen, das mit dem Pussy Magnet so untrennbar verbunden war wie Jack mit dem Cine-8.

      Kurz darauf polterte Mark in die Lobby, gefolgt von Pauls Ablösung, einem Collegestudenten, der das große Los gezogen hatte, für den Rest des Abends Jacks Geschichten lauschen zu dürfen.

      "Was geht, Jack?", rief Mark.

      Die beiden begrüßten sich schulterklopfend mit der Seelenverwandschaft zweier Cineasten. Jack sah auf die Uhr.

      "Ich lass dann mal laufen. Viel Spaß, Jungs." Er verschwand über die schmale Wendeltreppe in seine Welt der Finsternis.

      Mark schob Paul zu Kino Drei.

      "Auf geht's, Alter, wir haben noch 'ne Menge vor."

      Er sank neben Paul in einen Sitz in der letzten Reihe. Die durchgesessenen Polster knarzten unter Marks Pfunden.

      "Alter", flüsterte Mark, als wären sie nicht die einzigen im Saal, "rat mal, was ich uns für heute Abend organisiert habe."

      "Videos?"

      "Besser!"

      "Bier?"

      "Quatsch."

      "Passe."

      "Weiber."

      "Weiber?"

      Mark zog eine konspirative Augenbraue hoch.

      "Scotts Cousinen sind diese Woche in der Stadt. Und die sind sehr single."

      Scott arbeitete als Mechaniker für Mark Sr. Er spielte in Marks Leben eine bedeutende Rolle, weil er das Privileg des fortgeschrittenen Alters besaß, und so in der Lage war, alles besorgen zu können, was einem unter-21-jährigen nicht vergönnt war. Inklusive Mädchenkontakten, wie es schien.

      "Hier ist der Plan", sagte Mark. "Scott hat gesagt, die rufen uns so gegen 19 Uhr an. Dann nehmen wir sie mit auf unsere Halloween-Tour und zeigen ihnen die Nachbarschaft. Dann gehen wir zurück zu mir. Und dann..."

      Marks Augenbraue hob sich fast bis an den Haaransatz. Den Rest überließ er Pauls Fantasie.

      "Okay. Cool." Paul war sich nicht sicher, ob ihm dieser Plan gefiel. Er stellte sich vor, wie die beiden Cousinen (die im übrigen beide aussahen wie Joanne - Mädchen in Pauls Fantasie sahen grundsätzlich aus wie Joanne) zwischen ihnen auf Marks Sofa saßen, aber das Bild blieb unscharf. Der Gedanke, er oder Mark könnten tatsächlich in Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht kommen, war zu abstrakt. Außerdem kannte er Mark gut genug, um zu wissen, dass dessen "Pläne" für gewöhnlich ins Leere liefen. Im Saal wurde es dunkel.

      "Cool", sagte Mark und rutschte mit einem selbstzufriedenen Grinsen in den Sitz.

      Der Projektor surrte und schickte einen Staubkegel Richtung Leinwand. Sechsundneunzig Minuten und zweiundzwanzig Opfer später rollte der Abspann.

      "Michael weint. Soll ja wohl ein Witz sein." Empört über den Schwächemoment seines Helden stapfte Mark aus dem Kinosaal. Ein paar Besucher hatten tatsächlich noch den Weg ins Cine gefunden und wanderten durch die Lobby. Paul winkte seinem ticketverkaufenden Kollegen ein knappes Wir verschwinden zu, dass dieser nicht sah. Draußen war das Getröpfel zu einem Wolkenbruch geworden.

      Zehn Minuten später parkte Mark den Firebird vor einem Rolltor. Mark's Auto Repair bestand aus zwei Zapfsäulen vor einer Werkstatt mit angrenzendem Laden, dessen Angebot sich von Wischerblättern über Süßigkeiten bis zu Katzenfutter erstreckte. Paul folgte Mark durch den Regen, an der Kasse vorbei, die Betontreppe hinauf in das ehemalige Reifenlager, dessen eine Hälfte Mark Sr. seinem Sohn zu einem bescheidenen Apartment ausgebaut hatte.

      Eine nackte Glühbirne erhellte Marks übersichtliches Reich, das mit seinem wuchtigen Kunstledersofa an der einen, und einer Fernseher-Videorekorder-Kombination an der anderen Wand einem Minikino glich. Zwei mannshohen Stereoboxen, die aussahen, als kannten sie nur die Einstellung Hörsturz, standen wie Wachposten links und rechts daneben. Da der Senior selten zu Hause war, musste