Marsjahr. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783653
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brauche etwas, dass mir hilft, durch den Tag zu kommen.

      Er betrachtete mich auf die halb neugierige, halb nachdenkliche Art, die Ärzten angeboren ist und zwirbelte seine Bartspitze. Es gäbe da ein neues Medikament, sagte er, noch nicht marktreif, aber in der finalen Erprobungsphase. Ob ich bereit wäre, an einer Studie teilzunehmen? Mein Krankheitsprofil sei wie geschaffen, ich entspräche in allen Punkten den Anforderungen an potentielle Testkandidaten (eine Tatsache, die mich beinahe mit Stolz erfüllte).

      Als ich Interesse signalisierte, erging er sich in einen langatmigen Monolog über die Chancen und Risiken. Schon nach wenigen Sekunden blendete ich seine sonore Stimme aus. Ich wollte meine Ängste besiegen, egal womit. Erst nachdem ich ein kleingedrucktes Protokoll unterschrieben hatte, in dem bestätigt wurde, dass er mich über sämtliche Pros und Contras aufgeklärt hatte, drückte sich Loomis aus seinem Drehstuhl. Er entriegelte seinen wie einen Tresor gesicherten Medikamentenschrank, wühlte eine Weile darin herum, und schob mir eine unscheinbare weiße Schachtel über den Tisch. Mit dem Versprechen, ihn wöchentlich über meine Fortschritte auf den Laufenden zu halten, stecke ich sie ein.

      Heute morgen, noch vor dem Aufstehen, habe ich die erste Pille aus der Blisterpackung gedrückt. Sie ist rund und knallgelb, wie eines dieser Smiley-Gesichter, nur ohne Smile. Ich saß auf der Bettkante und lutschte auf der Tablette herum, während ich den Beipackzettel durchlas. Ein Smiley täglich, einzunehmen mit etwas Flüssigkeit. Die folgende Liste der Nebenwirkungen passte auf keine Klorolle. Sie erstreckte sich von Erbrechen, Schwindel, Durchfall und Müdigkeit über Wahnvorstellungen, Paranoia, Halluzination und Suizidgedanken. Schon das Lesen des Zettels verursachte einige davon. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und spülte das gelbe Ding runter.

      Jetzt sitze ich im Unterricht, und während ich diese Zeilen schreibe, spüre ich tatsächlich eine Veränderung. Die Schüler sind plötzlich weniger Bedrohung als am Lernen interessierte junge Menschen. Vielleicht ist es Einbildung, aber ich glaube - hoffe -, dass der dunkle Vorhang, der bisher mein ständiger Begleiter war, sich einen Spalt geöffnet hat. Was dahinter liegt, werde ich dir in Kürze berichten.

      -

      Paul schaute aus dem Fenster des Physiklabors. Der Sommer war zu einem Indian Summer geworden, doch von buntgefärbten Laub war um diese Tageszeit nichts zu sehen. Er sah sein Spiegelbild vor einem Hintergrund undurchdringbarer Dunkelheit, als hätte jemand eine schwarze Samthülle über die Apollo geworfen. Seine Mitschüler dämmerten im Halbschlaf eines zu frühen Freitagmorgens. Der einzig Lebendige im Raum war sein Lehrer. Als hätte man ihm eine Koffeininfusion gelegt, rannte er gestikulierend von einer Seite des Raums zur anderen und predigte gegen leere Blicke und Augenlider auf Halbmast. Mit der Leidenschaft des Besessenen schwadronierte er über das Unschärfegesetz.

      Paul ertappte sich dabei, wie er einmal mehr den Umschlag seines Physikheftes tätowierte. Der Heftrücken verschwand bereits unter einem Wust typografischer Variationen der immer gleichen sechs Buchstaben. JOANNE. Joanne in dreidimensionalen Lettern, Joanne mit rührenden Ornamenten verziert, im dreidimensionalen Blocksatz, in Tinte und Grafit. Pauls Physiklehrer war definitiv nicht der einzige Besessene im Raum.

      Endlich ertönte der ersehnte Gong. Paul blieben fünf Minuten zwischen Theoremen und Theorien. Er zog das Skateboard aus seinem Rucksack und machte sich auf den Weg. Das Physiklabor lag im Erdgeschoss. Verließ man es nach links, gelangte man mit wenigen Schritten zu Spind 113 - Joannes Spind. Paul bog rechts ab und nahm den Umweg ums Karree. Es war besser, sich von der anderen Seite zu nähern, denn so hatte er sein Ziel frühzeitig im Blick und konnte die Lage aus der Ferne einschätzen.

      Seit dem Ende der Ferien hatte er so manches unternommen, um dem Glück auf die Sprünge zu helfen. Morgens im Bus hütete sein Rucksack so lange den Platz neben ihm, bis Joanne zustieg. Erst dann gab er die Sitzbank frei, in der vagen Hoffnung, Joanne würde sich einmal neben ihn setzen. Doch statt für Paul entschied sie sich regelmäßig dafür, die Busfahrt mit einer der Crostons zu verbringen - falls sie überhaupt den Schulbus benutzte und nicht von der ältesten Croston-Schwester mitgenommen wurde.

      Paul erreichte die letzte Ecke und blickte den Gang hinab. Sein Herz machte einen Hüpfer. Dort stand sie und drehte an ihrem Zahlenschloss.

      Auch wiederholtes Gassigehen vor Joannes Haus hatte nicht zum Erfolg geführt. Ein einziges Mal meinte Paul, ihre Stimme gehört zu haben, wie sie ihren jüngeren Bruder zurecht wies. Doch selbst darüber war er sich nicht sicher gewesen. Ebenso gut hätte es ihre Mutter sein können.

      In den seltenen Momenten, in denen das Schicksal auf dem Schulflur ihre Wege kreuzte, versuchte er, ihren Blick aufzufangen. Vergeblich. Joanne sah durch ihn hindurch. Mark hatte recht. Sie hatte keine Ahnung, dass er existierte - bis jetzt.

      Wenigstens wusste er ihre Spindnummer. Schritt für Schritt pirschte er sich an wie ein Wilddieb.

      Die Pause zwischen der Doppelstunde Physik bot die beste Chance auf einen Erstkontakt. Sie bot eine kontrollierte Umgebung, wie sein Physiklehrer es in den Beschreibungen zu seinen Experimenten nannte. Eine Art Anti-Unschärfegesetz - er wusste mit ziemlicher Sicherheit, wann sich Joanne wo aufhalten würde.

      Dann stand Paul hinter ihr und stierte auf die perfekteste Halsbeuge der Welt. Überdeutlich registrierte er jedes Detail Wie sie sich mädchenhaft auf die Zehenspitzen stellte, um ihr Buch auf das oberste Regal zu schieben. Die Wadenmuskeln, die durch diese Bewegung hervortraten. Der fünfzackige Stern auf der Seite ihrer Converse-Schuhe. Die hellen Nackenhärchen im Kontrast zum goldbraunen Hautton, ein kalifornisches Goldbraun von einschüchternder Makellosigkeit, so deplatziert warm vor der trüben Kulisse aus Kacheln und Linoleum.

      Während zwischen ihnen der Schülerstrom zurück in die Klassenräume floss, labte sich Paul am süßlich-künstlichen Erdbeeraroma von Joannes Kaugummi und träumte Paul davon, wie Joanne und er das Erdbeerkaugummi teilten. Auf einer tieferen Ebene, die er so gut er konnte ignorierte, war ihm bewusst, dass das Konzept Joanne und er abstrakter war als die Relativitätstheorie. Jedes Mal, wenn Paul in Joannes Nähe kam, lähmte ihn ein unsichtbares Kraftfeld, raubte ihm die Stimme und diktierte ihm, einfach weiterzugehen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Als ob es jemals eine bessere Gelegenheit geben würde.

      Er stellte sich vor, er wäre Terra. Wenn seine Hündin jemandem das Gesicht ableckte und ihre Schnauze ungeniert zwischen fremde Beinpaare schob, fand man das bestenfalls putzig, schlimmstenfalls Pfui.

      Paul kratzte seinen sämtlichen Mut zusammen. Er musste Joanne ansprechen, hier und jetzt. Der Tag war gekommen, das Kraftfeld zu durchbrechen! Ein gigantischer Kloß wuchs in seinem Hals. Das Skateboard wog plötzlich zwanzig Kilo. Er atmete tief ein und trat einen Schritt vor. Im selben Moment schlug Joanne ihre Spindtür zu und ging davon. Paul sah ihr noch hinterher, als sie schon längst verschwunden war.

      -

      Die harte Trainingseinheit im Kraftraum tat Brian gut. Seine Muskeln brannten. Er fuhr mit dem Finger bewundernd die ausgeprägte Kante seines Trizeps ab, als jemand ihn mit einem Handtuchzipfel attackierte.

      Der Angreifer war Tyrone "Ty" Jackson, ihr Linebacker und im Team der Starfighters einer von zwei vorwitzigen Niggern, von denen es glücklicherweise nur eine Handvoll an der Apollo gab. Jeder andere, der sich eine derartige Attacke erlaubt hätte, wäre in den Genuss von Brians aktiver Sterbehilfe gekommen. Ein Nigger gleich zweimal. Aber Tyrone war genau wie Brian einer der Leistungsträger in ihrer Mannschaft und stand damit unter dem besonderem Schutz des Coaches.

      "Was geht ab an Halloween?", fragte Ty. Er machte eine Handbewegung, die man nur als exzessiven Alkoholkonsum interpretieren konnte. Am 31. Oktober fand traditionsgemäß ihr jährliches Mannschaftsgelage statt, ein bodenloses Fass Budweiser und hemmungslose Cheerleader inklusive. "Bist du dabei, Wolfi?"

      Wolfi. Ty benutzte den verhasste Spitznamen, weil er genau wusste, dass kein anderes Wort Brian zuverlässiger in den Wahnsinn trieb. Angefangen hatte dieser Wolfi-Quatsch harmlos, mit einem Artikel auf den Sportseiten der Schülerzeitung, dem Apollo Observer. Nach einem erniedrigenden Sieg gegen die Arcadia Cardinals. In seinem Spielbericht erwähnte der Schreiberling Brian mit der Bemerkung, dieser habe sich durch die gegnerische Mannschaft gefressen wie ein hungriger Wolf. Der holprigen Analogie zum Trotz